Im ersten Teil dieses Beitrages habe ich mich hauptsächlich mit der Biographie Giséle Freunds auseinandergesetzt. Ihre politische Sozialisation im Umfeld der Studentenorganisation der KPD in den späten 20er Jahren und ihre persönliche Bekanntschaft mit Soziologen, die mehr oder minder stark von materialistischen Geschichtskonzepten (mit)geprägt waren, hatten sicher wesentlichen Einfluss auf Freunds Weltanschauung – wobei ich diesen Begriff wörtlich nehmen möchte. Die „Welt anschauen“ ist ja wohl eine Triebfeder, Fotografien zu betrachten – wobei es nicht nur die „große, weite Welt“ sein muss, die man da sieht, sondern auch durchaus die „kleine, private Welt“, in der man sich befindet, und die man vielleicht plötzlich unter einem anderen Blickwinkel kennenlernt, buchstäblich „mit anderen Augen“ (denen der Fotografin oder des Fotografen).
Ebenso habe ich eine sehr polemische Kritik an der deutschen Ausgabe von „Photographie und Gesellschaft“ zitiert und die Vermutung geäußert, dass die negative Bewertung durch Heinz Buddemeier in erster Linie ideologische Ursachen hat. Das ist natürlich folgerichtig: Freund bezieht, ebenso wie Walter Benjamin (1892 – 1940), den sie voraussichtlich im Pariser Exil 1933 kennengelernt hat, eine auf der marxistischen Theorie fußende Position.
Kern von „Photographie und Gesellschaft“ ist Freunds 1936 vorgelegte Dissertation über die Photographie in Frankreich im 19, Jahrhundert.
So, wie Benjamins „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ erst lange nach dem Tod des Autors breit diskutiert wurde, war auch die Rezeption von Freunds Schrift gering (das haben nicht veröffentlichte Dissertationen leider mitunter so an sich). Klarerweise setzte sich Benjamin auf Grund der inhaltlichen Affinität mit Freund auseinander.
Freund, Gisele, La photographie francaise au XIX° siiécle.La Maison des Amis du Livre. Paris 1936. fl55 S. ; fr. fr. 24. — )
Freunds Studie stellt den Aufstieg der Photographie als durch den Aufstieg des Bürgertums bedingt dar und macht diese Bedingtheit in glücklicher Weise an der Geschichte des Porträts einsichtig. Von der unter dem ancien régime am meisten verbreiteten Porträttechnik, der kostspieligen Elfenbeinminiatur, ausgehend, zeigt die Verf. die verschiedenen Verfahren auf, die um 1780, das heißt sechzig Jahre vor Erfindung der Photographie, auf eine Beschleunigung und Verbilligung, damit auf eine weitere Verbreitung der Nachfrage nach Porträts hinzielten. Die Beschreibung des Physiognotrace als eines Mittelgliedes zwischen Porträtminiatur und photographischer Aufnahme zeigt mustergültig, wie.technische Gegebenheiten gesellschaftlich transparent gemacht werden können. Die Verf. legt dann weiter dar, wie die technische Entwicklung ihren der gesellschaftlichen angepassten Standard in der Photographie erreicht, durch die das Porträt breiten Bürgerschichten erschwinglich wird. Sie fuhrt aus, wie die Miniaturisten die ersten Opfer der Photographie in den Reihen der Maler wurden. Sie berichtet endlich über die theoretische Auseinandersetzung zwischen Malerei und Photographie um die Jahrhundertmitte.
Die Frage, ob die Photographie eine Kunst sei, wurde damals unter Ieidenschaftlichem Anteil eines Lamartine, Delacroix, Baudelaire verhandelt. Die Vorfrage wurde allerdings nicht erhoben : ob nicht durch die Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe. Die Verf. hat das Entscheidende gut gesehen. Sie stellt fest, wie hoch dem künstlerischen Niveau nach eine Anzahl der frühen Photographen gestanden haben, die ohne künstlerische Prätention zu Werke gingen und mit ihren Arbeiten nur einem engen Freundeskreise vor Augen kamen. „Der Anspruch der Photographie, eine Kunst zu sein, wurde gerade von denen erhoben, die aus der Photographie ein Geschäft machten.“ Mit anderen Worten : Der Anspruch der Photographie, eine Kunst zu sein, ist gleichzeitig mit ihrem Auftreten als Ware. Das stimmt zu dem Einfluss, den die Photographie als Reproduktionsverfahren auf die Kunst selber übte. Sie isolierte sie vom privaten Auftraggeber, um sie dem anonymen Markt und seiner Nachfrage zuzuführen.
Walter Benjamin (Paris).
Die Frage nach dem „Kunstcharakter“ der Fotografie gehört vermutlich zu den großen, ewig umstrittenen Fragen der Kulturgeschichte und Kunsttheorie. Um bei Freunds Verständnis zu bleiben, lohnt sich ein kleiner Abstecher in’s nachrevolutionäre Russland, das ja auch in Kunstfragen die 20er und 30er Jahre wesentlich mitprägte.
Von einem marxistischen Standpunkt aus beantwortete Alexander Woronski (1884 – 1937) die Frage, was denn nun Kunst sei, mit folgenden Sätzen, die mit Blick auf die Literatur formuliert wurden. [Woronski,aktiver Teilnehmer an der russischen Revolution 1917, war nach der Revolution unter anderem Herausgeber der Literaturzeitschrift „Rotes Neuland“, die sich als breite Plattform der schriftstellerischen Strömungen der Gegenwart verstand. Woronski, der Mitglied der Linken Oppositionen gegen die Stalinfraktion war, wurde während des Großen Terrors hingerichtet].
Was ist Kunst ?
Vor allem ist Kunst die Erkenntnis des Lebens. Kunst ist kein willkürliches Spiel der Phantasie, der Gefühle, der Stimmungen, Kunst ist nicht Ausdruck rein subjektiver Empfindungen und Erfahrungen des Dichters; Kunst setzt sich nicht das Ziel, vor allem »gute Gefühle« im Leser zu wecken. Die Kunst will ebenso wie die Wissenschaft das Leben erkennen. Kunst und Wissenschaft haben ein und denselben Gegenstand: das Leben, die Wirklichkeit. Aber die Wissenschaft analysiert, und die Kunst synthetisiert; die Wissenschaft ist abstrakt, die Kunst ist konkret; die Wissenschaft spricht den Verstand des Menschen an, die Kunst seine sinnliche Natur. Die Wissenschaft erkennt das Leben mit Hilfe von Begriffen, die Kunst mit Hilfe von Bildern, in Form einer lebendigen sinnlichen Wahrnehmung.“ (Woronski, Die Kunst, die Welt zu sehen, Arbeiterpresse Essen 2003, S. 122)
Benjamin führte mit dem „Aura“-Begriff ein nicht unbedingt „materialismus-kompatibles“ Element in seine ästhetischen Betrachtungen ein (was Brecht zu einem pointiert-harschen Eintrag in seinem „Arbeitsjournal“ verleitete, der mit den Worten „Alles Mystik, bei einer Haltung gegen die Mystik! In solcher Form wird die materialistische Geschichtsauffassung adaptiert! Es ist ziemlich grauenhaft!“ [Brecht, Arbeitsjournal, Suhrkamp 1973, Bd 1, S. 16]). Freund ist konsequenter. Sie kommt ohne metaphysische Rückgriffe aus und weist – unter Berufung auf einen anderen wichtigen Theoretiker des bildnerischen Ausdrucks – einen Ausweg aus der Diskussionssackgasse.
Zustimmend stützt sie sich auf Laszló Moholy-Nagy (1895 – 1946), Maler, Skulpteur, Bühnenbildner, Typograph, Fotograf und Lehrer am Bauhaus:
Nachdem man ein Jahrhundert lang über die Frage diskutiert hatte, ob die Photographie eine Kunst sei, weist ihr Moholy den ihr angemessenen Platz zu. Der alte Streit zwischen Künstlern und Photographen, bei dem es darum ging, zu entscheiden, ob die Photographie eine Kunst sei, stellte die falsche Frage. Das Problem besteht nicht darin, die Malerei durch die Photographie zu ersetzen, sondern die Beziehungen zwischen der Photographie und der heutigen Malerei zu klären und zu zeigen, dass die aus der industrillen Revolution hervorgegangene Entwicklung der technischen Mittel ganz konkret zur Entstehung neuer Formen optischer Gestaltung beigetragen hat. (Freund, S. 210)
Giséle Freund hat übrigens für sich selbst die Bezeichnung „Künstlerin“ zurückgewiesen. Sehr pointiert tat sie dies unter anderem in einem im Internet abrufbaren Gespräch mit Georg Stefan Troller.
Aber die „Kunstdebatte“ ist nur ein Aspekt des Werks. André Gunthert , Dozent an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS), wo er den Lehrstuhl für visuelle Geschichte innehat, charakterisierte im „Lettre de l’IMEC“ (2011) Giséle Freunds Studie als „die erste moderne Geschichte des Mediums“. Es basiere auf der ersten jemals vorgelegten wissenschaftlichen Arbeit über Fotografie aus dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und präsentiere ein Panorama jenseits einer Chronologie der technischen Innovationen und einer ästhetisierenden Zugangsweise, die durch den Piktoralismus geprägt ist. Vor allem aber weist Gunthert darauf hin, dass Freund auf eine neue Art die Beziehungen einer Epoche mit ihren Darstellungsweisen zeige. Er hebt die moralische Bedeutung einer solchen Sicht hervor.
Wieder in den Worten Freunds über Moholy-Nagy:
Der wahrhafte Photograph trägt eine große soziale Verantwortung. Er muss mit den technischen Mitteln arbeiten, die ihm zur Verfügung stehen. Diese Arbeit besteht in der exakten Wiedergabe der alltäglichen Dinge, ohne Verdrehung oder Verfälschung. Der Wert der Photographie darf nicht nur allein nach ästhetischen Gesichtspunkten bemessen werden, sondern sie muss auch nach der menschlichen und sozialen Intensität ihrer optischen Wiedergabe beurteilt werden. Die Photographie ist nicht nur ein Mittel zur Entdeckung der Realität. Die von der Kamera gesehene Natur ist anders als die Natur, die das menschliche Auge wahrnimmt. Doch die Kamera beeinflusst unsere Sehweise und schafft die neue Sicht. (Freund, S. 211).
Giséle Freund hat uns immer noch viel zu sagen. Und ihr wirklich gut und leicht lesbares Werk über Photographie und Gesellschaft ist nach wie vor lesenswert.
[Eine ausführlichere Fassung dieses Aufsatzes werdet ihr in der nächsten Ausgabe meines elektronischen Magazins complexityinaframe finden].