Mary Warner Marien für Freundinnen und Freunde von complexityinaframe keine Unbekannte. Die Dozentin für Geschichte und Theorie der Fotografie an der Syracuse University (New York,USA) haben wir bereits mit ihrem Buch „100 Ideas that Changed Photography“ vorgestellt.
Nun ist die 5., wie immer reichhaltig erweiterte, Ausgabe ihres Standardwerks zur Kulturgeschichte der Fotografie erschienen.
Heute werden täglich Millionen Fotos virtuell verbreitet. Im Jahr 2015 wurden erstmals mehr als 1 000 Milliarden Fotos ins Internet hochgeladen. Was heute vor allem mit der Kamerafunktion von Mobiltelefonen Teil unseres Alltags geworden ist, war in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts ein heiß diskutiertes Minderheitenthema. Was war diese Fotografie eigentlich? Etwas Magisches? Wissenschaft? Der Todesstoß für die Malerei und die schönen Künste? Eines ist jedenfalls gesichtertes Wissen: Die „Väter“ der Fotografie, Henry Fox Talbot und Jacques Daguerre, sahen in ihrer Arbeit keine „Erfindung“, sondern die Entdeckung eines naturwissenschaftlichen Vorganges. Was es – dank der Hilfe des Astronomen und Physikers Arago – möglich machte, dass die Französische Nationalversammlung 1839 diese Entdeckung kaufte und der ganzen Welt zur Verfügung stellte.
Sehr anschaulich und packend beschreibt Marien, dass die erwähnten „Väter“ der Fotografie lediglich das Ende einer Entwicklung darstellen, die Antoine Florence (1804-1879) im brasilianischen Campinas mit höchst unzureichenden Mitteln und Thomas Wedgewood (1771-1805) und Humphrey David (1778-1829) auf die „richtige Spur“ gebracht hatte. Ja, Ende des 18. Jahrhunderts war die Zeit reif für die Fotografie. Unwillkürlich fällt mir dazu ein Satz von Friedrich Engels über das Zeitalter der Aufklärung ein: !Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit!.
Marien Mary Warner erzählt spannend und lebendig, welche Rolle die Fotografie in Wechselwirkung mit der gesellschaftlichen Umwelt spielen konnte. Landschaftsfotografie etwa als Begeiterscheinung ganz anderer Ziele als der ästhetischen Abbildung der Wirklichkeit:
„Vermessungen wurden oft zu verschiedenen Zwecken organisiert, z. B. um die europäischen Siedler mit sauberem Wasser zu versorgen, die Geologie eines Gebiets zu erfassen, die Trassen für die Eisenbahn auszukundschaften oder archäologische oder architektonische Stätten zu erfassen. Häufig wurden die Vermessungen von Militäringenieuren durchgeführt, die bereits den Wert der Fotografie für die Bestimmung der Reichweite von Artillerie und die Reproduktion von Karten und Skizzen erkannt hatten“.
Das Buch ist von Satz und Typographie ein wirklicher Genuss. Beachtlich, wie die Autorin von der Frühzeit der Fotografie ausgehend zu einer umfassenden Darstellung des komplexen fotografischen Spektrums des 20. Jahrhunderts aufsteigt.
Spannend sind die „Focus“ genannten Blöcke, in denen spezielle Aspekte der jeweiligen Kapitel vertieft dargestellt werden. Wenn wundert es, dass auch das „Selfie“ einen solchen Focus verdient hat?
Im aktuellen Teil ihrer großartigen Kulturgeschichte erinnert Marien daran, dass der französische Maler Paul Delaroche angesichts der Durchsetzung der Daguerreotypie 1839 angeblich vom „Ende der Malerei“ gesprochen hat. In den 1990er Jahren erklärten die Kritiker Nicholas Mirzoeff und William J. Mitchell die Fotografie ebenso für tot. Sie sei der digitalen Bildgestaltung gewichen.
Tatsächlich werfen die Möglichkeiten der elektronischen Bildbearbeitung neue Fragen auf, bieten aber auch neue Möglichkeiten, Realität verfremdet leichter durchschaubar zu machen. Klar, Fotos haben keinerlei Beweiskraft mehr. Da lässt sich retuschieren, freistellen und neu zusammenfügen. Andererseits – das hat es ganz ohne Computer auch schon in den 20er und 30er Jahren in der stalinisierten UdSSR gegeben, als noch mit Schere und Klebstoff missliebige Persönlichkeiten aus der Geschichte verschwanden und andere irgendwo eingefügt wurden.
Tot ist die Fotografie noch lange nicht, und Marie Warner Marien belegt das mit prächtigen Bildern und intelligenten Texten. Fotografisch Interessierte werden sich kaum daran stoßen, dass es derzeit nur eine englische Ausgabe gibt.
Kurt Lhotzky
Marie Warner Marien
Photography, 5th Edition
Laurence King Publishing
552 Seiten, EUR 54,00 (A)