Bis 16.2.2025 ist in der Wiener Galerie Westlicht die Ausstellung „Mary Ellen Mark, The Lives of Women“ zu sehen. Mary Ellen Mark (1940–2015) war eine Meisterin ihres Fachs, deren Werk nicht nur die Fotografie prägte, sondern auch ein tiefes Verständnis für Menschlichkeit vermittelte. Zu Recht gilt sie als Vertreterin der „humanistischen Fotografie“. Ihre Arbeiten sind weit mehr als Bilder – sie sind Geschichten, Augenblicke purer Intimität und emotionale Zeugnisse sozialer Realitäten. Mark zählte zu den mutigsten und sensibelsten Dokumentarfotograf*innen ihrer Zeit und hinterließ ein Vermächtnis, das nach wie vor Fotograf*innen inspiriert.
Mark war bekannt für ihre Fähigkeit, sich in die Leben der Menschen, die sie porträtierte, einzufühlen. Sie suchte die Nähe zu gesellschaftlichen Randgruppen, deren Geschichten selten erzählt werden. Ob obdachlose Jugendliche in Seattle, Straßenkinder in Indien oder Patient*innen in psychiatrischen Einrichtungen – Mark brachte ihre Subjekte mit würdevoller Empathie und ohne Voyeurismus ins Licht der Öffentlichkeit. Das Projekt über „Ward 81“, den für weibliche Insassinnen reservierten Hochsicherheitsbereich des Oregon State Hospital in Salem aus dem Jahr 1978, trug wesentlich dazu bei, eine breite Diskussion über den Umgang mit weiblichen Psychiatriepatientinnen in den USA anzufachen.
Ihre Serie „Streetwise“ aus den 1980er-Jahren – eine eindringliche Dokumentation über obdachlose Jugendliche in den USA – bleibt eines ihrer bekanntesten Werke. Besonders das ikonische Porträt von Erin Blackwell aka Tiny, einem Mädchen mit erwachsener Resignation und kindlicher Verletzlichkeit, hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Fotografie eingeschrieben. Mark hat Tiny und ihre Familie 32 Jahre hinweg begleitet und ihre Entwicklung (im Guten wie im Schlechten) in einfühlsamen Bildern aufgezeichnet. 2016 entstand dazu ein Dokumentarfilm, den Marx gemeinsam mit ihrem Mann Martin Bell produzierte.
Mary Ellen Mark arbeitete ausschließlich analog und bevorzugte Schwarz-Weiß-Fotografie, was ihrer Arbeit eine zeitlose und universelle Qualität verleiht. Ihr Stil war klar, direkt und ehrlich. Sie war keine Beobachterin aus der Distanz, sondern tauchte in die Welten ihrer Subjekte ein. Diese Herangehensweise machte ihre Fotografien zu Zeugnissen echter Begegnungen. Ihre Bilder wirken nie inszeniert, sondern strahlen Authentizität aus. Ihre Kamera war kein Werkzeug der Macht, sondern ein Mittel, um Brücken zu bauen und das Verständnis für die Vielfalt menschlicher Erfahrungen zu vertiefen. Die Bilder Marks strahlen immer die Stimmung tiefes Respekts aus, den sie den Menschen, mit denen sie sich beschäftigt hat, entgegenbrachte.
Als Frau in der Fotografie war Mary Ellen Mark zugleich eine Pionierin in einem oft männerdominierten Feld. Sie zeigte, dass Leidenschaft, Beharrlichkeit und die Fähigkeit, Geschichten mit Herz und Verstand zu erzählen, Grenzen überwinden können. Sie arbeitete nicht nur an unabhängigen Projekten, sondern schuf auch bahnbrechende Beiträge für Magazine wie Life, The New Yorker und Vanity Fair.
Darüber hinaus widmete sich Mark der Lehre und inspirierte unzählige Fotograf*innen weltweit. Ihre Workshops und Vorträge waren legendär, weil sie nicht nur technische Fertigkeiten vermittelte, sondern auch betonte, wie wichtig Empathie und Menschlichkeit in der Fotografie sind.
Mary Ellen Marks Werk ist heute aktueller denn je. Ihre Fotografien erinnern uns daran, wie wichtig es ist, die Stimme derjenigen zu hören, die oft ignoriert werden. Sie zeigen, dass Fotografie mehr sein kann als Kunst – sie kann ein Werkzeug für soziale Gerechtigkeit sein.
Mit ihrer unvergleichlichen Fähigkeit, die Essenz menschlicher Erfahrungen einzufangen, bleibt Mary Ellen Mark eine unvergessliche Figur in der Welt der Fotografie.
Bis 16.2.2025 in Wien im Westlicht.
Kurt Lhotzky