2017 feiert die legendäre Fotoagentur Magnum ihren 70. Geburtstag. Die Großausstellung “magnum manifesto” zieht eine außergewöhnliche Bilanz dieser sieben Jahrzehnte, in denen Magnum die zeitgenössische Fotografie wesentlich mitgeprägt hat.
Es ist ein großes Glück, dass sich die Ausstellung und der hervorragende gleichnamige Katalog auf eine ebenso bemerkenswerte Dissertation von Clara Bouveresse über Magnum stützen kann. Die Doktorarbeit der jungen französischen Fotohistorikerin ist unter dem Titel “Histoire de l’agence Magnum – L’art d’être photographe” beim renommierten Flammarion-Verlag in Paris erschienen.
Bouveresse stützt sich auf lange ignoriertes Archivmaterial und kann dadurch einige Mythen widerlegen, die Magnum von seiner Geburtsstunde an begleitet haben. Sie tut dies auf eine ausgesprochen liebenswürdige Art. Sie will niemanden entlarven, und indem sie die Fakten korrekt präsentiert, zerstört sie die Mythen nicht, sondern situiert sie in einem breiteren und komplexen Kontext, der ihre Entstehung verstehen lässt.
Natürlich hat es Stil, wenn der Legende nach Robert Capa, William Vandivert, Henri Cartier-Bresson, George Rodger und David Seymour im Frühjahr 1947 bei einem Mittagessen in der Cafeteria des MoMA (Museum of Modern Art) in New York eine Magnumflasche Champagner köpften und dabei eine ganz besondere Fotografen-Kooperative gründeten, um den Fotografen endlich zu ihrem Recht auf ihre Werke zu verhelfen. Und natürlich stand die Magnum-Flasche Champagner bei der Namensgebung der kooperativen Agentur Pate. Nicht in der Anekdote erwähnt werden die beiden weiblichen Gründungsmitglieder Maria Eisner und Rita Vandivert, die immerhin die erste Magnum-Präsidentin war.
Gerade im Zusammenhang mit Robert Capa wäre es aber falsch, jedes seiner Worte über die Gründung der Agentur auf die Waagschale zu legen. So wie die anderen Gründer von Magnum hatte sich Capa seit dem Spanischen Bürgerkrieg einen Namen gemacht. Das sogar wortwörtlich. Aus dem ungarischen Fotografen Endre Friedmann hatte sich der international berühmte Robert Capa gehäutet. Er gilt als einer der großen Neueren des Fotojournalismus. Henri Cartier-Bresson wiederum wird als Fotokünstler und Meister des Goldenen Schnitts verehrt (auch wenn seine Fotoreportagen Maßstäbe gesetzt haben). Der gebürtige Pole David Seymour hatte sich ebenfalls auf den Schlachtfeldern Spaniens als Fotoreporter hervorgetan. William Vandivert und George Rodger hatten als Kriegsreporter den Kampf der Alliierten gegen Nazideutschland begleitet und dann die Situation in Nackriegseuropa dokumentiert.
Da wäre es doch wirklich viel zu prosaisch, die Gründung der Agentur an der Hinterlegung einer Satzung beim New Yorker Handelsgericht festzumachen, oder nicht? Genau diese Satzung aber zeigt, wie viel Denkarbeit hinter der Schaffung einer Agentur steckte, die völlig verschiedene Fotografinnen und Fotografen zusammenführen und deren Interessen vertreten wollte, ohne einen Einheitsstil vorzuschreiben.
Vereinfacht ausgedrückt waren die Fotografinnen und Fotografen vor Magnum billige Lohnsklaven der Magazinherausgeber. Einmal veröffentlicht, verloren sie jedes Recht am Negativ. Sie hatten keinen Einfluss, welche Bildunterschriften unter ihren Fotos abgedruckt wurden, sie konnten nicht beeinflussen, in welchem Kontext ihre Fotos erschienen.
Das wurde mit Magnum anders. Als Pool hervorragender und selbstbewusster Fotografen begann Magnum, die Bedingungen für den Abdruck der Fotos der Mitglieder der Kooperative zu diktieren. Verwertungsrechte und Negative blieben jetzt bei den Fotografen, und damit eröffnete sich ein völlig neuer Weg, um Ausstellungen oder Fotobücher zusammenzustellen. Kein Wunder, das mit Magnum auch die Glanzzeit des Fotobuchs begann.
Zugleich formulierte die Magnum-Charta hohe ethische Ansprüche. Im weitesten Sinn lässt sich die Geschichte Magnums in die Geschichte der Schule der humanistischen Fotografie einreihen.
“Magnum manifesto” beschönigt die Konflikte innerhalb der Magnum-Gesellschafter nicht. Die Agentur war natürlich einem Wachstumsprozess unterworfen. Schon früh wurde etwa die aus Österreich gebürtige Fotografin Inge Morath in die Kooperative aufgenommen. Der Tod Capas 1954 in Vietnam durch eine Landmine und die Erschießung Seymours in Ägypten 1956 änderten natürlich auch das Klima im Kollektiv. Die ausgeklügelte und langwierige Prozedur der Aufnahme neuer Mitglieder barg immer wieder Zündstoff in sich.
Der Aufbau des bei Schirmer Mosel auf Deutsch erschienenen, 416 Seiten starken und daher buchstäblich gewichtigen Katalogs ist elegant, übersichtlich und wohldurchdacht: Die Einleitung von Clément Chéroux umreißt nicht nur kurz die Geschichte der Agentur, sie weist auf Problemfelder hin, die sich aus dem ambitionierten Konzept der “Gründerväter” (und der verschwiegenen Mütter) ergeben haben.
Näher ausgeführt wird das im schönen Beitrag von Clara Bouveresse “Nichts als Champagner” (ein Zitat von Rita Vandivert, die dem Fotografen George Rodger zum ersten Geburtstag Magnums “nichts als Champagner” versprach).
Der I. Teil umspannt die Jahre 1947 – 1968: “Menschenrechte und menschliches Unrecht” (im englischen Katalog gibt es hier das Wortspiel “human rights and wrongs”). Die Fotoauswahl in allen Teilen des Katalogs lässt so gut wie alle Magnum-Fotografinnen und Fotografen zu Wort kommen, aber ohne einen künstlichen Anspruch auf Parität. Es geht darum, den für jede Phase der Magnum-Geschichte typischen Geist wiederzugeben. Der I. Teil zeigt, wie unterschiedlich der humanistische Anspruch der Charta umgesetzt wurde – sei es Erich Hartmanns Essays über das “täglich Brot” oder die Beiträge zur “Generation X”, dem ambitionierten Versuch, die Weltjugend darzustellen. Ein Exkurs “Amerika in der Krise” leitet zu Teil II über – “Ein Inventar der Differenzen”.
Randgruppen, Randerscheinungen, von der Gesellschaft versteckte oder weggesperrte stehen hier im Zentrum. Bilder aus psychiatrischen Anstalten ebenso wie die legendäre Studie von Josef Koudelka, “Gypsies”, oder Susan Meiselas “Carnival Strippers”. Der Zeitraum des II Kapitels geht von 1969 – 1989 – hier setzt Teil III ein: “Endzeitgeschichten”.
Natürlich beginnt alles mit dem Fall der Berliner Mauer und der Zersetzung der Sowjetunion. Hier finden wir Bilder aus dem berühmten Fotoessay von Thomas Dworzak über die Taliban ebenso wie Donovan Wylies Besuch im damals schon stillgelegten nordirischen Hochsicherheitsgefängnis Maze.
Der Epilog, “Magnum ist…” enthält nicht, wie es verlockend gewesen wäre, Bonmots und kurze Sentenzen über die Agentur – hier werden Briefe und schriftliche Diskussionsbeiträge von Mitgliedern der Kooperative abgedruckt, die zeigen, wie lebendig, intellektuell und empathisch die Idee Magnum in diesem 70 Jahren diskutiert wurde.
Hoffen wir, dass die Magnum-Ausstellung auch in Österreich zu sehen sein wird. Einstweilen können wir uns aber an diesem wirklich bemerkenswert schönen Buch erfreuen.
Magnum Manifesto
Herausgegeben von Clément Chéroux. In Zusammenarbeit mit Clara Bouveresse.
Aus dem Englischen von Saskia Bontjes van Beek.
416 Seiten, über 450 Bilder, davon 190 in Farbe.
Format: 24,5 x 29,5 cm, gebunden. Deutsche Ausgabe.
Schirmer/Mosel, EUR 49,80 (Deutschland), 51,20 (Österreich)