The complexity of a street (...) derives from the interplay between its own immobility as architecture, the relative instability of its 'inhabitants' and the unpredictable comings and goings of its birds of passage.(Clive Scott, street photography)
Manchmal geht’s im Leben so zu wie im Computerspiele-Klassiker Tetris (kennt das eigentlich noch wer???). Da häufen sich Steinchen an, unterschiedliche Formen fallen irgendwie hinab – und mit etwas Glück und Geschick kann man geschlossene Reihen bilden.
Mir ist es so gegangen, als ich auf den Roman „Warten auf Robert Capa“ von Susana Fortes gestoßen bin. Wie ihr ja aus meinem Blog wisst, ist die Beschäftigung mit der Frage, welche Bilder den Menschen zumutbar sind und welche gesellschaftlich-politische Dimension Fotografie (oder, genauer: Fotojournalismus und Dokumentarfotografie) haben kann irgendwie ein hauchzarter roter Faden, der „complexityinaframe“ durchzieht.
Offensichtlich ist dieses Thema nicht meine alleinige „Obsession“ – immerhin sind im Lauf des Jahres schon vier Romane erschienen, die sich unter verschiedenen Blickwinkeln diesem Thema auch oder hauptsächlich annähern: William Boyds „Die Fotografin“, Owen Sheers „I saw a man“, das Buch von Susana Fortes und jüngst Sabine Grubers „Daldsossi oder das Leben des Augenblicks“. Liegt es an der zunehmenden „Macht der Bilder“? Liegt es daran, dass uns die Konflikte und Kriege immer näher rücken? Liegt es daran, dass die harte Realität unseres Jahrzehnts den schöngeistigen Eskapismus austreibt? Liegt es daran, dass wir den „schrecklichen Bildern“ immer wenige ausweichen können?
Aber zurück zum Roman der spanischen Journalistin Susana Fortes über Gerda Taro (eigentlich Gerta Pohorylles, geboren 1910 in Stuttgart) und Robert Capa (eigentlich Endre Ernö Friedmann, geboren 1913 in Budapest).
Susana Fortes erzählt, gestützt auf reichhaltige fotohistorische Literatur, die Geschichte der Liebes- und Arbeitsbeziehung zwischen diesen unterschiedlichen und doch ähnlichen, von den gleichen Ansprüchen geleiteten Menschen, die vor allem durch ihre Reportagen aus der spanischen Revolution den modernen Fotojournalismus geprägt haben. Zugleich wagt Fortes die Gratwanderung, sich in die Gedankenwelt ihrer Protagonisten hinein zu versetzen. So entsteht ein faszinierendes Bild einer „amour fou“ – zumindestens seitens Capas – in den „Zeiten von Liebe und Krieg“.
Endre lernt Gerta 1934 in Paris kennen – dorthin war die Tochter eines polnisch-jüdischen Kaufmanns 1933 mit ihrer Schweizer Freundin Ruth Cerf geflüchtet, nachdem sie mit viel Glück im März 1933 der Gestapo entkommen konnte, die sie wegen ihrer politischen Kontakte verhaftet hatte. Endre, gerade 21, war seinerseits im faschistischen Horthy-Ungarn der Polizei in die Hände gefallen, die ihn wegen seiner Aktivitäten in der linken Schülerbewegung brutal misshandelte. Vor die Wahl gestellt, in Haft zu bleiben oder das Land zu verlassen, ging er zuerst nach Berlin, wo er an der Deutschen Hochschule für Politik Fotografie erlernte und beim Deutschen Photodienst Dephot landete. 1932 erregte
eine Fotoserie internationale Aufmerksamkeit: Der 19jährige hatte als einziger die Gelegenheit genutzt, im Auftrag der Dephot beim ersten öffentlichen Auftritt des aus Russland vertriebenen Revolutionärs Leo Trotzki Fotos zu machen. Nach der Machtergreifung der Nazis übersiedelte Endre kurzfristig nach Wien und dann eben in die französische Hauptstadt.
In Paris gab es eine wachsende, künstlerisch und politisch hochaktive, Exilbewegung. Denn der Faschismus breitete sich metastasenartig in Europa aus. Ein beliebter Treffpunkt der linksgerichteten deutschsprachigen Emigranten war das Café Capoulade im Quartier Latin. Dort verkehrte unter anderem Gerta und beteiligte sich an den regen Debatten im verrauchten Ecklokal.
Endre Friedmann überredete Ruth Cerf zu einem Fotoshooting für eine Inseratenserie – diese nahm ihre Freundin mit, weil sie dem quirligen und charmanten jungen Ungarn nicht so recht traute. Bald bahnte sich zwischen Endre und Gerta eine Beziehung an – nicht nur eine erotische, sondern auch eine künstlerische. Durch Endre kam Pohorylle mit der Fotografie in Berührung, und sie wollte dieses neue Terrain betreten und sich frei darin bewegen – ihr Freund lehrte sie Technik, Bildaufbau und das „Warten auf den richtigen Augenblick“.
Es waren die Jahre der Leica und der Rolleiflex – handliche kleine Kameras machten es möglich, nahezu überall zu fotografieren. Im Gegensatz zu anderen großen Fotografen seiner Zeit verstand sich Friedman immer als Journalist, die Arbeit in der Dunkelkammer hasste er (als sein Bruder Cornell Ungarn verlassen konnte, wurde er derjenige, der die Negative von Endre und Gerta ausarbeitete). Er hatte auch keine Probleme, wenn seine Bilder von Redaktionen beschnitten wurden (ein großer Unterschied zu seinem Freund Henri Cartier-Bresson, der sich jeden Eingriff in seine Kompositinen verbat).
Mit Hilfe ihres Freundes hatte Gerta mittlerweile eine Arbeit in einer Bildagentur gefunden, Endre machte teilweise vielbeachtete Fotoreportagen wie jene über die Lage im Saarland vor der Abstimmung über die Zukunft dieses zwischen Frankreich und Nazideutschland umstrittenen Territoriums.
Auch Paris war damals kein sicherer Hafen für Flüchtlinge. Faschistische Banden wie die Action Francaise und die Croix de Feu verbreiteten antisemitische Propaganda und griffen Mitglieder und Funktionäre der Linksparteien an. Mit dem Sieg der französischen Volksfront 1936 schien sich der Wind zu drehen. Die 40-Stunden-Woche wurde eingeführt, erstmals konnten die französischen Arbeiter bezahlten Urlaub machen, die faschistischen Ligen wurden verboten.
Dann kam der 17. Juli 1936: In Spanien putschten die Generale Franco, Queipo de Llano und Mola gegen die junge Republik und stützten sich auf die faschistischen Organisationen des Landes sowie Teile der Monarchisten. Als Reaktion auf den Offizierscoup entwaffneten in den großen Städten Arbeiter die Soldaten, bildeten Milizen und begannen mit der Verteidigung gegen die Faschisten; am Land verjagten die armen Kleinbauern die Grundbesitzer, es kam zu Kollektivierungen, und die Kirchen, Inbegriff der unheiligen Allianz zwischen Klerus und Reaktion, brannten.
Gerda, die mittlerweile zur inoffiziellen Managerin ihres Freundes geworden war, war im Jahr zuvor ein echter „scoop“ geglückt: Gemeinsam mit Endre hatten sie die Kunstfigur „Robert Capa“ geschaffen – einen jungen, gutsituierten amerikanischen Fotojournalisten aus besten Kreisen, der nach Paris gekommen war, um Leben in die Szene zu bringen. Aus Gerta Pohorylle wurde Gerta Taro – vom Klang her eine Referenz an die vor ihr bewunderte Greta Garbo. Zwar wurde der „Schwindel“, der eher ein practical joke war, aufgedeckt: Das änderte nichts daran, dass der angebliche Amerikaner um etliches mehr für seine Fotos erhielt als der kleine ungarische Fotograf Endre Friedmann.
1935 hatte Capa erstmals eine Reportage in Spanien fotografiert – nun waren er und Gerta entschlossen, nach Spanien zu gehen, um über den Krieg gegen die Faschisten zu berichten. Am 8. August, knapp drei Wochen nach dem Putsch, flogen sie nach Barcelona – und hatten zum ersten Mal Glück: Die Maschine stürzte beim Landeanflug beinahe ab, die Bruchlandung war eine ziemliche Katastrophe, aber Robert und Gerta gehörten zu den wenigen unverletzten Passagieren.
So wie später ihrem Journalistenkollegen George Orwell war es den beiden klar, dass sie diesen Krieg nicht neutral covern konnten. Sie verstanden sich als Partei – hier, in
Spanien, wurde die Grenzlinie gegen die faschistische Flut gezogen, und ihre Kameras waren scharfe Waffen in dieser Auseinandersetzung.
Gerta Taros Fotos unterschieden sich deutlich von denen Roberts. Nicht nur, weil sie mit der Rolleiflex im Format 6 x 6 arbeitete, und er mit dem Leica-Kleinbild 24 x 36. Gerda „komponierte“ ihre Bilder – sie war nicht langsam, aber nicht so spontan wie Robert (der wohl auch deswegen kein Problem damit hatte, wenn sich durch Beschneiden der Fokus seiner Fotos änderte). Beide waren waghalsig – sie fotografierten nicht wie andere im Hinterland, sie gingen ganz nach vorn, auf den Barrikaden in Madrid genauso wie auf den Schlachtfeldern Kataloniens und Brunetes.
Halten wir uns vor Augen: Sie war 26, er 23. In nahezu jugendlichem Alter sahen sie Zerstörung, Tote, Flüchtlinge, vergewaltigte Frauen, Kinder auf der Flucht, um sie herum schlugen Granaten und Kugeln ein, bald verdunkelten deutsche Kampfflieger den Himmel. Sie wollten der Welt die Wahrheit über diesen schrecklichen Krieg entgegen schreien, sie wollten aufrütteln – aber die westlichen „Demokratien“, allen voran die befreundete französische Volksfront, ließen das kämpfende spanische Volk im Stich.
Am 5. September 1936 machte Robert Capa jenes Foto, das ihn weltberühmt machte: Der fallende Soldat – die Aufnahme eines Milizionärs im Moment seines Todes, getroffen von einer Kugel der Faschisten. Das Foto erschien in allen großen Zeitungen und Zeitschriften, wurde eine fotografische Ikone, tauchte in den 60er und 70er Jahren – aus dem Zusammenhang gerissen – auf antimilitaristischen Plakaten auf. Sehr glaubhaft beschreibt Susana Fortes die Verzweiflung Capas über dieses Bild, die bohrenden Zweifel, ob der Milizionär noch am Leben wäre, wenn er, Capa, nicht auf der Suche nach dem „besten Bild“ gewesen wäre.
Das besondere am Roman Fortes ist sein „hybrider“ Charakter. Manchmal glaubt man, eine Monographie über Taro und Capa zu lesen, dann folgen Einschübe mit inneren Monologen der beiden, Beschreibungen ihres gemeinsamen Lebens, ihrer sexuellen Ekstase und ihrer Entfremdungen voneinander, auch immer wieder Vorgriffe in der Geschichte, bis nach Vietnam 1954, wo Robert Capa sein gewaltsames Ende ereilte.
Dennoch ist „Warten auf Robert Capa“ ein geglückter Roman, nicht nur eine Hommage an zwei große Persönlichkeiten der Fotografie des 20. Jahrhunderts.
So, wie das Foto vom fallenden Milizionär das Leben Capas veränderte, veränderte sich auch die Beziehung zwischen ihm und Gerta Taro. Sie liebten einander, aber sie gingen oft genug getrennte Wege. Nicht nur bei Susana Fortes, auch in der Realität scheint Robert viel schwerer mit diesem Leben und der Unabhängigkeit der Partnerin fertig geworden zu sein. Eifersucht auf Kollegen plagte ihn, während sie in Spanien war und er in Frankreich im gemeinsamen Atelier arbeitete, das ein Treffpunkt von Kollegen wie Cartier-Bresson, Brassai oder Künstlern wie Giacometti war. Umgekehrt ertrug Gerta es nur schwer, in Paris den notwendigen Tagegeschäften nachzugehen, während Robert irgendwo an der Front unterwegs war.
Beide konnten, in unterschiedlicher Intensität, Menschen mit ihrem Charisma bezaubern. Ihre Lebensfreude, ihr Mut zogen fast zwangsläufig Menschen in ihren Bann, und oft genug knisterte es ganz gehörig zwischen ihnen und anderen, was wiederum gegenseitige Eifersucht nährte.
Am 25. Juli 1937 verbrachte Gerta den ganzen Tag in den vordersten Linien an der Brunete-Front. Es war ein schrecklicher Tag für die Antifaschisten. Den ganzen Tag über feuerte die Artillerie der Faschisten, deutsche Kampfflieger der Legion Condor bombardierten die republikanischen Stellungen, Tiefflieger mähten flüchtende Gegner nieder. Am Abend war ein Rückzug unvermeidlich, und gemeinsam mit ihrem kanadischen Kollegen Ted Allan schaffte es Taro gerade noch, am Trittbrett eines Pressewagens mitgenommen zu werden. Und dann rammte im allgemeinen Chaos der Flucht ein Panzer der eigenen Truppen den Wagen, zermalmte ihn ,und mit ihm Gerta Taro, die aber – trotz ihrer schwersten Verletzungen – am Leben blieb.
Sie starb am nächsten Tag im Militärlazarett in El Escorial. Ihre letzten Worte sollen ihrer Kamera gegolten haben – ob diese gefunden worden sei, fragte sie die Krankenschwester. Als diese verneinte, sagte sie: „Wie schade, sie war fast neu“.
Die Beisetzung Gerta Taros in Paris, am Friedhof Père Lachaise, war eine antifaschistische Massenkundgebung. Zehntausende folgten dem Sarg, unter ihnen Schriftsteller wie Pablo Neruda oder Louis Aragon. Der völlig gebrochene Robert Capa wurde von seinem Freund Henri Cartier-Bresson gestützt und war in Tränen aufgelöst. Vierzehn Tage sperrte er sich in seinem Atelier ein um zu trauern und damit fertig zu werden, dass er in der Stunde ihres Todes nicht bei seiner Gefährtin gewesen war.
Freunde und Kollegen vermuten, dass Capas spätere spektakuläre Arbeiten – etwa die Fotos von der Landung der Allierten in der Normandie, wo er an der ersten Welle des Angriffs auf den blutigen Omaha-Beach teilgenommen hatte – deswegen so beeindruckend waren, weil er sich nach dem Tod Gertas nichts mehr aus dem Leben machte, Risiken einging wie kaum ein anderer seiner Kollegen. Sein Tod durch eine Mine in Thé Binh 1954 nährte diese Interpretation. Aber auch der gemeinsame Freund und Kollege David „Chim“ Seymour kam 1956 durch eine Kugel um’s Leben – zu einem Zeitpunkt, als der Krieg, über den er berichtete (um den Suez-Kanal) eigentlich schon vorbei war.
Ich kann Susana Fortes Buch allen Leserinnen und Lesern empfehlen, die ein fesselndes und berührendes Buch über zwei große Fotografinnen/Fotografen lesen wollen. Es ist aber auch ein „voraussetzungsloses“ Buch für alle, die eine dramatische und bewegende Liebesgeschichte lesen wollen.