Am 15. Juni 2023 wurde in der Orangerie im Doblhoffpark in Baden das diesjährige Fotofestival „La Gacilly-Baden Photo“ eröffnet. Zum 6. Mal findet damit in Kooperation mit der „Mutterveranstaltung“ in der Bretagne Europas größtes Openair-Fotofestival statt. Drei thematische Stränge laufen dieses Mal zusammen: das Hauptthema „Orient“, Fotostrecken, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Naturzerstörung weltweit beschäftigen und, last but not least, die künstlerische Beschäftigung mit den fünf niederösterreichischen Welterbestätten.
Spätestens seit Edward W. Saids Buch „Orientalism“ 1978 ist der Begriff „Orient“ umstritten. Er hat im Laufe der Zeit eine komplexe Entwicklung und Wandlung erfahren. Ursprünglich stammt er aus dem Lateinischen und bezeichnete die Himmelsrichtung Osten. Im Laufe der Zeit wurde er jedoch auf verschiedene Weisen verwendet und mit Bedeutungen aufgeladen. In der europäischen Geschichte wurde der Begriff „Orient“ oft verwendet, um die Länder und Kulturen des Nahen Ostens, Nordafrikas und Asiens zu beschreiben. Dabei ging es oft mit einer Vorstellung des „Anderen“ einher, die von Stereotypen und Vorurteilen geprägt war. Der Orient wurde als exotisch, mysteriös oder auch rückständig wahrgenommen. Intellektuelle, Wissenschaftler und postkoloniale Theoretiker argumentierten, dass der Begriff „Orient“ eine Konstruktion sei, die von westlichen Mächten geschaffen wurde, um ihre Herrschaft über andere Kulturen zu rechtfertigen. Sie betonten die Vielfalt und Eigenständigkeit der Regionen und lehnten eine Vereinheitlichung unter dem Begriff „Orient“ ab. Heute wird der Begriff „Orient“ in der akademischen und kulturellen Diskussion oft vermieden oder kritisch hinterfragt. Stattdessen wird eine präzisere und kontextbezogene Beschreibung bevorzugt, um den verschiedenen Kulturen, Ländern und Regionen gerecht zu werden. Die Betonung liegt auf individuellen Identitäten und Eigenheiten, anstatt sie in einem übergeordneten „Orient“-Konzept zu vereinen.
Beim „Orient“-Schwerpunkt fokussiert die Ausstellung auf den Iran und den indischen Subkontinent samt dem angrenzenden Afghanistan. Zeitgenössische Fotograf*innen kommen ebenso zu Wort wie „Klassiker“. Die ausgestellten Fotografien zeigen, wie sich Künstler*innen und Dokumentarist*innen der Diversität dieses geopolitisch brisanten Raumes annehmen können, ohne in die oben angesprochene Falle des Eurozentrismus oder kultureller Klischees zu tappen.
Im Zusammenhang mit dem diesjährigen Festivalthema steht auch eine bemerkenswerte Veröffentlichung der Edition Lammerhuber: Sarah Carons Fotoband „Pakistan – wo die Berge weinen“. In prächtigen Bildern, die durch Komposition und Farbe brillieren, zeigt die französische Fotografin die Komplexität eines Landes, in dem unterschiedliche religiöse und ethnische Gruppen zusammenleben – und das nicht immer friedlich. Modernität neben geradezu archaischen Stammesstrukturen, religiöse Beengtheit neben überschäumender Lebenslust der Jugend.
Diese Widersprüche werden in schmerzlicher Weise durch die beim Festival vertretenen iranischen Fotograf*innen aufgezeigt. Das ist mit eine der wichtigsten Aufgaben der Fotografie – Ungleichheit, Unterdrückung, Widerstand nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Die nach wie vor stattfindenden Massenproteste, die sich an der Ermordung der jungen Kurdin Mahsa Amini durch die Religionspolizei des Mullah-Regimes im Herbst 2022 entzündeten, haben auch hier bei uns in Österreich zu großen Solidaritätskundgebungen geführt. Jin, Jiyan, Azadi – Frau, Leben, Freiheit. Erstmals haben weltweit Millionen Menschen zumindest drei wichtige Wörter auf kurdisch gelernt. Und wirkmächtige Fotos der Proteste haben das Regime in Teheran daran gehindert, die Bewegung so vollständig zu zertrümmern wie andere Proteste davor.
Leider ist die Situation im von den Taliban beherrschten Afhanistan noch viel bedrückender. Auch hier hat Sarah Caron an der Grenze erschütternde Fotos gemacht – etwas das einer jungen Frau, die versucht, bewaffnete Taliban dazu zu überreden, sie nach Pakistan ausreisen zu lassen. Es kann einem das Herz brechen, wenn man die Bilder kleiner, neugieriger afghanischer Mädchen sieht, denen von rückwärtsgewandten Fanatikern die Zukunft geraubt wird. Es sind Bilder, die Appelle zum Handeln, zur Solidarität sind. Gut, solche Bilder in Niederösterreich zu zeigen, wo eine Koalition die Mentalität der „Festung Österreich“ hochhält …
Das Fotofestival in La Gacilly in Morbihan (Bretagne) ist von seiner Geschichte her außergewöhnlich (siehe dazu diesen Beitrag auf complexityinaframe). Wenn man eine Schublade sucht, in die man das Festival einsortieren will, wäre das wohl die mit der Aufschrift „humanistische Fotografie“. Wie bei allen Genres sind auch hier die Definitionen und Interpretationen fluid. Der Ansatz, durch Fotografie Solidarität und Zusammenhalt über Länder- und kontinentale Grenzen zu fördern und optische Bewusstseinsbildung dem Ökozid entgegenzuwirken prägt das Konzept sowohl in Frankreich wie auch in Österreich.
Lois Lammerhuber, Initiator des „Festivalexports“ nach Baden, veranschaulichte in seiner Eröffnungsrede die Problematik des Konzepts anhand einer Anekdote. Einen Tag vor dem Beginn der Ausstellung wurde er Ohrenzeuge der Empörung einiger Damen, die beim Anblick der von Stephan Gladieu gestalteten Strecke über ein Projekt des Künstlerkollektivs „Ndakuya la vie est belle“ (Ndakuya – das Leben ist schön) in der Demokratischen Republik Kongo etwas die Contenance verloren. Die kongolesischen Sänger*innen, Maler*innen, Designer*’innen schaffen aus dem allgegenwärtigen Müll, den die entwickelten Länder in ihrem Land (und anderen Teilen Afrikas und Asiens) abladen, fantasievolle Kostüme, die an einheimische Traditionen anknüpfen.
Ja – in La Gacilly werden nicht nur „schöne“Bilder gezeigt. Vorurteile werden nicht bedient. In einer gegebenen Situation, in der durch Deep Fake und AI die Glaubwürdigkeit der Fotografie und anderer bildgebenden Medien schwer gelitten hat, zeigt sich die Notwendigkeit und Lebensfähigkeit einer künstlerisch-dokumentarischen Fotografie – trotz alledem.
Das Thema Umwelt- und Naturzerstörung ist ein roter Faden, der sich von Anfang an durch das Konzept „La Gacilly“ gezogen hat. Atemberaubende Fotos, unter anderem jene von Bernard Descamps und Chloé Azzopardi zeigen, was die Menschheit zu verlieren droht, wenn der von Profit- und Machtgier befeuerte Raubbau an unserem Planeten nicht bald gestoppt werden kann.
Dass Schönheit aber nicht nur in abgelegenen Weltteilen zu finden ist, beweisen die Arbeiten des jungen niederösterreichischen Fotografen Gregor Schörg . Das Festival in Baden präsentiert heute den zweiten Teil seiner Arbeit über das Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal.
Ein Aspekt von La Gacilly-Baden Photo 2023 muss ganz besonders hervorgehoben werden: das mittlerweile schon traditionelle Schulprojekt. In diesem Jahr werden 16 niederösterreichische Schulen unter dem Motto „Öffnungen“ mit Jugendlichen Projekte durchführen, um den Schüler*innen die Fotografie nahezubringen. In Österreich wird der Medienkompetenz im Unterricht leider nach wie vor zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Oft hat man den Eindruck, dass die Fotografie noch immer eine „illegitime“Kunst ist, der im Kunstunterricht kein oder nur wenig Platz eingeräumt wird. Das hoch motivierte Veranstaltungsteam stellt übrigens für Pädagog*innen Begleitmaterial zur Verfügung – ein vorbildlicher Beitrag zur Kulturvermittlung.
So, jetzt bin ich fast am Ende meines Beitrags zur Eröffnung des Festivals La Gacilly-Baden Photo 2023. Zerknirscht gestehe ich, dass ich nur einen Bruchteil der ausgestellten Fotograf*innen und der Festivalorganisator*innen nennen konnte. Aber die Rettung ist nah: Natürlich kann man alle Informationen zum Festival auf der intuitiven und sehr eleganten Homepage finden. Dort kann man auch den Katalog der Ausstellung als PDF online lesen oder herunterladen. Kleiner Hinweis: gedruckt ist der Katalog natürlich ein noch größerer Genuss – wer in kauft, hat sozusagen La Gacilly im Minimundus-Format zu Hause.
Versprechen oder Drohung? Das wird nicht der einzige Artikel auf complexityinaframe zu La Gacilly bleiben. Sieben Kilometer Ausstellungsstrecke müssen wohlüberlegt abgeschritten werden. Und einzelne Ausstellungen und sogar einzelne Fotos sind einer ausführlicheren Einzeldarstellung wert.
Um die oben geöffnete Klammer zur humanistischen Fotografie zu schließen: Kommt nach Baden (das Festival ist klimaneutral, also reist mit der Lokalbahn, den ÖBB, dem Rad an…)! Genießt die Vielfalt der großformatigen Fotografien. Und das ganz und gar kostenlos.
La Gacilly -Baden Photo ist nicht nur das größte, es ist durch seine Darbietungsform wohl auch das demokratischste Fotografie-Event Europas. Niemand wird durch materielle Schranken abgehalten, die außergewöhnlichen Kunstwerke zu sehen. Also – auf nach Baden. Bis 14. Oktober habt ihr Zeit.
Ein neuer Besucherrekord würde die Organisatoren sicher freuen :-).
Kurt Lhotzky