Gute Fotos betrachten hilft – wirklich!

Dass Fotografie enorm viel mit Sehen zu tun hat, ist eine Banalität; sehen ist aber nicht unbedingt schauen, schauen und sehen nicht unbedingt betrachten.

Wenn ich mit Öffis unterwegs bin, schaue ich (vor allem, seit ich viel fotografiere) immer aus dem Fenster – vielleicht sehe ich ja etwas, was ich bisher über-sehen habe, das mich jetzt aber aus irgendeinem Grund interessiert, fasziniert, oder ich sehe Details, die mir verborgen geblieben sind. Habe ich ausreichend Zeit, steige ich aus und betrachte das Objekt meiner visuellen Begierde, nähere mich ihm unter verschiedenen Blickwinkeln, überlege, ob ich jetzt ein Bild sehe, das ich gerne festhalten würde.

OK – das ist vielleicht ein ebenfalls banales Beispiel, aber damit kann ich vermutlich erklären, was ich mir unter dieser Begriffsabstufung schauen – sehen – betrachten vorstelle.

Eine gute Gelegenheit, gute Bilder zu betrachten, sind natürlich Ausstellungen und Fotobücher. Das ist ja das Wunderbare am „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, dass jede Frau und jeder Mann die Bilder bedeutender Fotografinnen und Fotografen jederzeit betrachten kann. [ Achtung: jetzt folgt ein sozialer und kulturpolitischer Exkurs, den Sie bei mangelndem Interesse überspringen können! ] Klingt demokratisch, ist es aber so nicht ganz: auch in den Industrieländern, die sich gerne „entwickelt“ nennen, kostet der Zugang zum Bild Geld – für Internet, für Bücher, für Ausstellungsbesuche; dieser Zugang ist abhängig von Erziehung, Bildung, Förderung von Neigungen. Natürlich gibt es Ausweichmöglichkeiten: Gratis Internetzugänge in öffentlichen Bibliotheken, Leihbüchereien, diverse Ermäßigungen für Senioren, Jugendliche, Soldaten in Uniform (warum eigentlich nicht für Kriegsgegner ohne Uniform?), etc. Und jetzt rede ich gar nicht von den Milliarden Menschen in den „weniger entwickelten“ Teilen der Welt, die zwar oft genug fotografiert werden (auf der Flucht, im Krieg, in Versorgungslagern bei Hungersnöten, nach Umweltkatastrophen) und die keinen oder kaum Zugang zu einem der erwähnten visuellen Medien haben.

Das habe ich jetzt nicht geschrieben, weil ich den Besucherinnen und Besuchern meines Blogs ein schlechtes Gewissen ob ihrer „privilegierten Situation“ machen will – die Möglichkeiten, die wir heute haben, um unsere „kulturellen Bedürfniss“ zu befriedigen, sind uns ja auch nicht von gutmeinenden Despoten oder luziden Ministern in die Wiege gelegt worden, sondern sind Ergebnisse sozialer Kämpfe in der Vergangenheit, derer wir uns einfach oft genug gar nicht mehr bewusst sind. [ Hier geht’s weiter, der Exkurs ist zu Ende! ]

In den 90er Jahren gab es in Frankreich mit TERRAIL Photo eine kleine Serie von dünnen quadratischen Büchern, in denen, thematisch gruppiert, Fotos der Bildagentur Magnum veröffentlich wurden. Einen dieser Bände (der leider vergriffen ist, aber auf Flohmärkten und in Antiquariaten gelegentlich noch zu finden ist) möchte ich heute vorstellen: „Couples“ – „Paare“. Natürlich sind die ganz Großen der Magnum-Riege vertreten: Rene Burri, Elliott Erwitt, Cornell Capa, Henri Cartier-Bresson… aber auch Fotgrafinnen wie Eve Arnold oder Martine Franck (Frauen waren ja bei Magnum irgendwie unterrepräsentiert).

Warum Paare? Das liegt an einer neuen persönlichen Vorliebe von mir, im Rahmen meiner Versuche mit street photography Paare abzulichten. Den Anstoß dazu gab Martin Parr mit seiner Serie über „Boreed Couples“. Ich wollte – mit weit geringerem Anspruch – ein Gegenstück dazu schaffen – „No so bored couples“. Es ist natürlich schwierig, Paare abzubilden, ohne zu tief in ihre Privatheit einzudringen, aber trotzdem das Gemeinsame festzuhalten, das, was sie zu mehr als zwei Individuen, die zufällig zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind, macht.

Das kleine Magnum-Bändchen enthält völlig unterschiedliche Zugänge zu diesem Thema, und wenn man die Bilder wirklich betrachtet , kann man enorm viel aus ihnen herauslesen, und enorm viel von den Fotografinnen und Fotografen lernen (alle Abbildungen sind übrigens schwarzweiß). Schon das Titelbild von Ian Berry ist ein Beispiel, was ein Foto, in  Verbindung mit dem Wissen um seine Entsethungszeit und seinen Entstehungsort, erzählen kann: Wir sehen ein fröhliches, offensichtlich verliebtes, Paar, in einem gemischtrassigen Cafe in Südafrika (1961). Zu Zeiten des Apartheidregimes eines unerhörte visuelle Provokation also. Wir sehen aber auch völlig „unbeschwerte“ street- und social-photography Bilder: Ein junges Paar sucht sich in einem Kaufhaus ein Sofa aus; Josef Koudelkas Bild eines alten tschechischen Romapaares; Bruno Barbeys witziges Foto aus Italien – ein nicht wirklich rankes Paar, noch dazu mit zwei Kindern, bei einer Spitztour auf einer Vespa. Natürlich gibt es auch „ikonische“ Bilder, wie das sich küssende Paar auf der Berliner Mauer 1989…

Ich habe zwei Beispielfotos schnell mit der Handycam online gestellt, um die völlig unterschiedlichen Zugänge zum Thema sichtbar zu machen. Vielleicht haben interessierte Besucherinnen und Besucher von complexityinaframe ja Glück und finden das Büchlein irgendwo. Wer mehr Fotos sehen will, kann im Kommentarfeld eine Nachricht hinterlassen, ich werde dann (unter Einhaltung der Bildrechte, klarerweise) gerne auch Scans weiterleiten.