Wie ihr vielleicht aus meinem „Bilanzvideo“ zur Foto Wien wisst, hatten es mir vor allem die letzten Tage dieses Großevents – Schwerpunkt: Fotobuch – angetan.
Es wäre ein Leichtes gewesen, auf einer Gehstrecke von ein paar Dutzend Metern gepflegt zu verarmen. Das Angebot an Literatur aus Fotobuchverlagen, von Independent Publishern, Plattformen und Vereinigungen war so überbordend, dass nur ein klug limitiertes Einkaufsbudget den Weg in den Schuldturm verhindern konnte.
Beeindruckend war die Fülle an Klein- und Selbstverlagen mit einer Unzahl teils wunderschöner, mitunter verwirrender, immer aber ausgesprochen liebevoll gestalteter Bücher. Zines, Fotokollektionen in handgearbeiteten Boxen, Leporellos, handgebundene Einzelstücke – ein Eldorado für Leserinnen und Leser.
Wenn ich die Menschen bei den Bücherständen um Informationen bat, hatte ich es nicht selten mit der Verlegerin oder dem Verleger selbst zu tun. Der Informationsquell versiegte auch dann nicht, als ich leicht beschämt gestehen musste, dass ich mir leider heute kein weiteres Buch mehr leisten könne. Der Enthusiasmus blieb ungebrochen, und nahm statt eines Buches eine Fülle an Informationen mit.
Wahre Leckerbissen waren die Vorträge und Panels im Rahmen des „Fokus Fotobuch“. Am Freitag, 25.3., sprach Rainer Iglar von der Salzburger Fotohof Edition mit Dr. Monika Faber vom Fotoinstitut Bonartes über „Fotogeschichtsforschung in Österreich“. Anhand ihrer Biographie beschrieb die ehemalige Kuratorin des Museums Moderner Kunst und der Albertina den dornigen Weg der Erforschung der üppigen Archivbestände im öffentlichen Besitz.
Wenig befriedigend war für mich die Reaktion auf meine Wortmeldung, bei der ich Zweifel anmeldete, ob tatsächlich eine rein private Forschungsförderung wie z. B. durch Fabers Institut Bonartes der Hauptweg zur Erforschung der Fotosammlungen der Universitäten, Museen oder der Nationalbibliothek sein könnte. Dass bürokratische Formalitäten und Kompetenzrangeleien die Forschung in Österreich erschweren, war mir auch vorher klar. Nur stellt sich für mich nach wie vor die Frage, ob man diesen Ist-Zustand als gottgegeben hinnehmen oder an seiner Überwindung arbeiten soll. Vielleicht wäre es dem Thema gut bekommen, wenn noch andere Fotogeschichtsforscher*innen am Podium vertreten gewesen wären.
Leider konnte ich am Samstag einen meiner „Wunschtermine“ nicht wahrnehmen – das Panel „Beyond the Margins: zu Fotobüchern von Frauen“. Moderiert von Vreni Hockenjos diskutierten Eugenia Maximova, Agnes Prammer, Katharina Steidl und Mareike Stoll.
Am Sonntag gab es dann ein höchst informatives und auch witziges Gespräch zwischen Cemre Yeşil Gönenli (Istanbul, FilBooks) und Lukas Birk (Fraglich Publishing). Die verbindende Klammer zwischen beiden Fotograf*innen, Verleger*innen und „Makers“ ist ihr besonderer Zug zu Fotoarchiven (im weitesten Sinn). Birk zeigte das an seinem Buch „Fernweh“, das die Geschichte dreier Generationen ist – die seines Großvaters, seines Vaters und ihm selbst. Fotografen und Reisende wie er, schlüpft er in ihre Rolle und zeigt die gemeinsame Kontinuität. In seinem Verlag erscheinen unglaublich spannende Bücher, die in Krisen- und Kriegsgebieten entstehen (z. B. Afghanistan, Myanmar, China, Südafrika …). Tatsächlich produziert Lukas Birk die Bücher dort gemeinsam mit einheimischen Fotograf*innen, oft mit behelfsmäßigen technischen Möglichkeiten, auf nicht zum Bedrucken bestimmten Papier etc. Sein besonderes Interesse gibt den Box-Fotos. Ein Besuch auf der Homepage lohnt sich!
Cemre Yesil Gönenli hat mit „Hayal & hakitat“ einen Sensationserfolg bei internationalen Fotoveranstaltungen geschafft und zahlreiche Preise eingeheimst. Im „Buch der Vergebung und Bestrafung“ wird Fotomaterial verwendet, das der 34. Sultan des Osmanischen Reichs, Abdul Hamid II. (1842-1918) in Auftrag gegeben hatte. Der Sultan verließ seine Residenzstadt Konstantinopel so gut wie nie und ließ sich durch Fotografien über „sein“ Land informieren. Als begeisterter Leser von Kriminalromanen (ja, klar gab es die damals schon!) war er von pseudowissenschaftlichen Methoden zur Erkennung des „kriminellen Charakters“ begeistert. Er ließ daher zum Tode verurteilte Mörder (unter Berücksichtigung der damaligen Rechtsverhältnisse sollte hier wohl genauso die Unschuldsvermutung gelten wie gegenüber machen zeitgenössischen Politiker*innen) fotografieren, um deren Hände studieren zu können. Da er in einem Roman gelesen hatte, dass Menschen, bei denen das Daumengelenk länger sei als das Gelenk des Zeigefingers, zum Verbrechen neigten, wurden diese obskuren Handstudien zur Entscheidungsgrundlage bei Begnadigungen.
Gönenli hat diese Fotos nun in einem höchst elegant gestalteten Buch zusammengestellt, freilich nicht, ohne die Köpfe der Inhaftierten wegzulassen. Es bleibt den Betrachter*innen überlassen, sich die Gesichter der Häftlinge vorzustellen.
Während das Buch international Furore machte, reagierten die offiziellen Medien der heutigen Türkei mit nachhaltigem Schweigen. Ob die seltsamen Justizmethoden eines toten Sultans vielleicht zu sehr an jene einen lebenden Sultans erinnern?
Das Gespräch zwischen Birk und Gönenli war anregend und steckte voller überraschender Informationen (z. B. was die Produktionsmethoden in „armen Ländern“ betrifft). Beide vermittelten einen geradezu ansteckenden Enthusiasmus für das Büchermachen – ein begeisternder Programmpunkt.
Ebenso mitreißend war das Gespräch zwischen Birgit Sattlecker (Fotohof Salzburg) und Ana Casas Broda von Hydra Books (Mexiko). Hydra begann 2012 als Projekt von Ana Casas Broda, Gabriela González Reyes und Gerardo Montiel Klint. Zunächst war Hydra eine Art „Mentoring-Plattform“ – Fotograf*innen aus den benachteiligtsten Regionen Mexikos erhielten „Stipendien“, um an Workshops teilzunehmen. Daraus entwickelte sich sukzessive ein Verlagsprojekt und Hydra dehnte sich auf ganz Mittel- und Südamerika aus. Bedingt durch die COVID-Epidemie fanden dann zahlreiche Video-Events statt und das Netzwerk dehnte sich auf Afrika und Asien aus.
Hydra verfügt über professionelle Inkjet- und Laserdrucker – alles auf Kredit erworben, stets finanziell am Rande des Abgrunds balancierend. Aber die unerhörte Energie der mittlerweile um Lourdes Báez Meza erweiterten Gründergruppe stabilisiert das bemerkenswerte Projekt. Neben dem Verlag betreibt Hydra die einzige Buchhandlung in Ciudad de Mexico, in der man internationale Fotobücher, auch von Independent Publishers, erwerben kann. Die internationale Anerkennung für Hydra – unter anderem Präsenz bei Paris Photo und den Rencontres in Arles – gibt moralischen, mitunter zum Glück auch materiellen Rückenwind. Derzeit ist in Salzburg im Fotohof eine Ausstellung mit Hydra-Büchern zu sehen.
Ana Casas Broda sprach übrigens auf Deutsch – ihre Großmutter, selbst Fotografin, war die Frau des ehemaligen Innenministers. So, wie Casas Broda die intensive Beziehung zu ihrer Großmutter in Buchform verarbeitet hat, gibt es mit „Kinderwunsch“ eine sehr berührende Darstellung des Verhältnisses der Fotografin zu ihren Kindern.
Soweit meine Eindrücke von den Fotobuchtagen auf der Foto Wien.
Kurt Lhotzky