Die Zeitgeschichte ist mitunter ein bissiger Hund. Ein Beweis ist Seite 74 des Programms der Foto Wien. Ganz links oben wird die Ausstellung „es rinnt von unten nach oben“ im A307 mit der Adresse Selma-Steinmetz-Straße 1, 1020, angekündigt.
Nun muss man wissen: Im 21. Wiener Gemeindebezirk gibt es eine Selma-Steinmetz-Gasse. Wien Wiki vermerkt dazu: „Selma-Steinmetz-Gasse (21), benannt (6. November 2017 Gemeinderatsausschuss für Kultur, Wissenschaft und Sport) nach Selma Steinmetz (1907-1979), Bibliothekarin, Autorin, Widerstandskämpferin. Ab 1963 baute Steinmetz die Bibliothek des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes auf.“
Weiters muss man wissen: In der Leopoldstadt gibt es die Arnezhoferstraße. Johann Arnezhofer war im 17. Jahrhundert Pfarrer. Heute würde man ihn wohl als „Hassprediger“ bezeichnen. Der christliche Antisemit war nach dem großen Pogrom von 1670 ein Hauptverantwortlicher für die Deportation von Jüdinnen und Juden aus dem Viertel „Unteres Werd“. Später wurde der Bezirk Lopoldstadt nach dem damals regierenden Kaise benannt, der die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung angeordnet hatte. Unter Bürgermeister Karl Lueger wurde dann 1906 eine Straße ausgerechnet in der Leopoldstadt nach Arnezhuber benannt – Verwandte im Ungeist, sozusagen.
Seit 2008 gab es Bemühungen, die Arnezhoferstraße in Selma Steinmetz-Straße umzubenennen – was letztlich scheiterte.
Wer diese Geschichte nicht kennt, hat schlechte Karten, wenn er sich mit dem Programm der Foto Wien auf die Suche nach der Ausstellung „es rinnt von unten nach oben“ macht. Denn die nach wie vor offizielle Adresse des A307 ist Arnezhoferstraße 1, 1020 Wien. Das ehrliche antifaschistische Anliegen in Ehren – ohne „Entschlüsselung“ dieses Rätsels werden sich etliche Wiener*innen und vor allem Nicht-Wiener*innen mit dieser Angabe nicht zurecht finden, was schade ist, weil die kleine, aber extrem liebevoll kuratierte Ausstellung in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Handwerksbetriebes wirklich sehenswert ist.
Gemeinsame Klammer der Exponate von Veronika Gahmel, Eric Kläring, Claudia Rohrauer und Johann Schoiswohl ist das Gehen. Deutlich wird das am Triptychon „EXPECTED ENCOUNTERS revisited. Im Rahmen mehrerer künstlerischer Aufenthalte hat Claudia Rohrauer das abgebildete Waldgebiet in Finnland durchwandert. Zwei im Winter entstandene Schwarzweiß-Fotos werden in der Mitte von einem Farbfoto gebrochen, dass die Waldszenerie im grünenden Zustand zeigt. Wie hat die Fotografin diese Landschaft wohl in Erinnerung? Einen Hinweis gibt vielleicht eine daneben ausgestellte Fotostrecke – die gleiche Landschaft, aber dargestellt mit Polaroidfotos und Farbnegativen. Dazu die Satzfragmente „to return to revisit to enter to repeat to walk to remember to look to reread to search“.
Veronika Gahmel ist mit dem Projekt „Luban Lu“ vertreten. Zwei Risografien basieren auf Fotos von Hochstraßen in Shanghai und der auf den Trägern wachsenden Pflanzen. Ach ja – Risografie. Man kann ja nicht alles wissen. Die Wikipedia klärt uns auf: „Die Risographie ist ein im Zylinderdruckverfahren durchgeführtes Schablonendruckverfahren nach Art der Siebdrucktechnik. Das Verfahren wurde von der japanischen Firma Riso entwickelt, woher das Verfahren seinen Namen hat. 1986 brachte die japanische Firma RISO Kagaku Corporation den ersten Risographen (kurz Riso) auf den Markt. Damals vorwiegend für die günstige und schnelle Vervielfältigung in Schulen und Behörden eingesetzt, entwickelte sich die Risographie mehr und mehr zur beliebten Drucktechnik für spezialisierte Verlage, Designer, Künstler und Illustratoren. Risographie zeichnet sich dadurch aus, dass die Farbe ohne Anwendung von Chemikalien und Hitze auf das Papier gebracht wird. Der ökologische Vorteil wird von günstigen Verbrauchskosten begleitet“.
Johann Schoiswohls „Cliff Walk“ zeigt, wie schwer wir bei der Betrachtung von Landschaften unseren Sinneseindrücken vertrauen können. Die Fotos von den weißen Felsenklippen an der Britischen See sind nicht eindeutig – wo endet das Gestein, wo beginnt die Gischt der Brandung?
Ein paar Stufen hinunter führt der Weg zu Susanne Miggitschs „High Line, NYC“ (2015/2022). In einer dreiminütigen Endlosschleife auf 16-Millimeter-Film wird eine ganz spezielle Parklandschaft in New York vorgestellt. Dazu wieder die Wikipedia: „Die High Line ist eine 2,33 Kilometer lange und 7,5 Meter über dem Boden liegende, nicht mehr als solche genutzte Güterzugtrasse im Westen von Manhattan, die von 2006 bis 2019 zu einer Parkanlage, dem High Line Park, umgebaut wurde. Der erste Abschnitt wurde im Juni 2009 der Öffentlichkeit übergeben. Der zweite Abschnitt des Parks (20th bis 30th Street) wurde 2012 eröffnet. Am 21. September 2014 folgte Abschnitt 3 bei den Rail Yards (30th bis 34th Street, 10th und 12th Avenue) und das letzte verbliebene Stück „the Spur“ am 5. Juni 2019. Die Fertigstellung der beschlossenen Verbindung zu der nur zwei Blocks entfernten Moynihan Train Hall, die am 1. Januar 2021 öffnete, ist für 2023 geplant. (…) Zur Gestaltung des Parks wurden überwiegend Pflanzenarten gewählt, die zuvor als Ruderalvegetation von der aufgelassenen Bahnanlage Besitz ergriffen hatten“. Ein animiertes Stillleben, könnte man sagen.
Eric Kläring stellt mit dem „schrägen Herbert“ ein Wandgestell aus Lochplatten aus, das Träger von Fundstücken bei Spaziergängen ist – konkret von Steinen aus dem Prater. Im Schaufenster der Galerie/Werkstatt/Kulturstätte wird übrigens ein weiteres Element des Flanierens ausgestellt: Kleine Pflänzchen, die Kläring in der Umgebung gefunden und umgepflanzt hat.
Für mich war die Ausstellung insofern anregend, als ich aufgrund der Ankündigung überhaupt keine Vorstellung hatte, was mich erwarten würde. Die kompetenten und umfassenden Erläuterungen von Susanne Miggitsch haben mir neue Perspektiven auf Gebiete der Fotografie eröffnet, mit denen ich bisher wenig zu tun hatte.
Das ist einer der schönen Aspekte der Foto Wien – man kann neue Eindrücke sammeln und Bereiche der Fotografie erkunden, denen man wegen der Fokussierung auf seine Hauptinteressen zu wenig Beachtung schenkt.
Kurt Lhotzky