Wenn schon der Prophet im eigenen Lande nichts gilt – was gilt dann erst der Fotograf? Unwillkürlich hat sich mir diese Frage beim Besuch der Ernst Haas-Ausstellung in der Wiener Galerie Westlicht gestellt.
Der 1921 in Wien geborene Haas gehört zu den Großen der Fotografie des 20. Jahrhunderts. Trotzdem sind hierzulande einem größeren Publikum in der Regel nur ein paar seiner ikonischen Heimkehrerfotos aus dem Jahr 1947 bekannt. Klar – er ging in den 50er Jahren nach Amerika und machte dort eine traumhafte Karriere.
Die Wiener Jahre sind etwas undurchsichtig – wegen der Abstammung des Vaters musste der junge Ernst Haas aus rassischen Gründen 1940 sein Medizinstudium abbrechen, danach den Reichsarbeitsdienst über sich ergehen lassen, ein Studium an der Graphischen in Wien beginnen und ebenfalls vorzeitig aussteigen. „1943-1949“ Mitarbeit in einem Wiener Fotoatelier, heißt es in einer knappen biographischen Skizze in einem Werk über die großen Fotografen des 20. Jahrhunderts.
1946, so die Überlieferung, erwarb er seine erste eigene Kamera, eine Rolleiflex, die er für 10 Kilogramm Margarine am Schwarzmarkt eintauschte (woher der Bruder, der ihm das fettige Tauschmittel geschenkt hatte, 10 Kilo Margarine her nahm, konnte ich nicht eruieren).
Dann, 1947 – die berühmte Fotostrecke über Kriegsheimkehrer am Südbahnhof. Unterwegs war der 26jährige damals mit Inge Morath – auch kein unbekannter Name in der Fotogeschichte.
Die Fotos erschütterten weltweit – die hoffnungsfrohe Erwartung auf den Gesichtern der Mütter, Ehefrauen, Schwestern, Verlobten, die den Heimkehrern aus der russischen Kriegsgefangenschaft Fotos ihrer Liebsten entgegenstreckten und darauf hofften, Auskunft über deren Schicksal zu erhalten. Die Enttäuschung oder gar Verzweiflung, wenn wieder keiner der Heimkehrer den Vermissten erkannt hatte.
Die eindringlichen Bilder führten dazu, dass der junge Österreicher 1949 Mitglied der neugegründeten, mythenumwobenen Fotoagentur Magnum wurde. Robert Capa selbst lud ihn zur Mitarbeit ein. Magnum – das war schon ein bisschen der Olymp der Fotografie. Ein sehr maskuliner Götterhimmel, in den übrigens Inge Morath als eine der ersten Frauen aufgenommen wurde.
Ab 1951 beginnt sich Haas mit Farbfotografie zu beschäftigen – damals noch ein no go für ernsthafte Fotografen. Farbfotografie – das war was für die Werbung, bestenfalls Kommerz, schlimmstenfalls eine Geschmacksverirrung. Vom Schwarz-Weiß-Saulus wird Haas zum Farb-Paulus: Sein Essay „Images of a Magic City“ erscheint 1953 als zweiteilige Farbreportage im LIFE-Magazin. Neun Jahre sind es bis zu seiner Ausstellung im MoMa, dem Museum of Modern Arts in New York – der ersten Farbfotoausstellung in dieser Institution.
Einer breiten Öffentlichkeit in den englischsprachigen Ländern wurde Haas Mitte der 60er Jahre bekannt, als die mit Unterstützung von KODAK produzierte TV-Serie „The Art of Seeing“ ausgestrahlt wurde. Mit Wienerisch gefärbtem Englisch erklärte Haas anhand von Fotos, aber auch von Gemälden alter und neuer Meister die „Kunst des Sehens“.
Interviews und Aufsätze zum Thema Farbfotografie machten den mittlerweile international gefeierten Fotografen zum Liebling der Amateurfotografen – und das ist keineswegs negativ gemeint. Im Gegenteil – es kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, dass die Popularisierung der Fotografie dank seines Engagements bedeutende Fortschritte machte.
Was ein bisschen in den Hintergrund trat waren seine kommerziellen Arbeiten. Oder hätten Sie bei Ernst Haas spontan an den Marlboro-Mann gedacht? Werbung für Gift und Lungenkrebs – ja, schon, aber integriert in unerhört packende Landschaftsfotografie. Die Werbefotografie auch eines Ernst Haas hat wesentlich das Amerikabild mehrerer Generationen mitgeprägt.
Trotzdem – in Österreich erinnert wenig an Ernst Haas. Im 2. Wiener Gemeindebezirk gibt es zwar eine Haasgasse, die ist aber nach dem „Handelsmann und Hausbesitzer Simon Anton Haas“ benannt. Auch literarisch sind die Spuren vernachlässigbar: nach wie vor ist Fritz Simaks Dissertation „Der Photograph Ernst Haas 1921-1986“ die umfangreichste Arbeit über Haas’ Leben und Werk. Während Henri Cartier-Bresson, Man Ray, Lee Miller, Robert Capa, Inge Morath, Gerta Taro und andere fotografierende Zeitgenossinnen Haas’ in Monographien oder gar Romanen gewürdigt wurden, ist Haas zumindest hierzulande weitgehend unbekannt. Die Rache des „Goldenen Wienerherzens“ an einem, der sein Glück in der Ferne gemacht hat?
Aber noch gibt es Hoffnung – und wieder einmal erstrahlt das Licht aus Westen. Die noch bis 12. Februar 2023 laufende Ernst-Haas-Ausstellung bietet einen umfassenden Überblick über das Schaffen Ernst Haas’. Die von Fabian Knieriem kuratierte Werkschau glänzt unter anderem durch ausgesprochen pfiffige optische Umsetzungen.
Ich wünsche der Ausstellung möglichst viele, möglichst neugierige, möglichst junge Besucher*innen. Vielleicht nehmen einige Inspirationen mit nach Hause, welche die Philosophie von Ernst Haas weitertragen helfen: “I am not interested in shooting new things – I am interested to see things new.”