Kontext
Vor 150 Jahren, am 18. März 1871, ergriff die Pariser Bevölkerung die Macht. Im Gefolge des deutsch-französischen Krieges 1870/71 und dem Sturz der Herrschaft Napoleons III. implodierte im September 1870 das Kaiserreich und machte auf unspektakuläre Weise den Weg für die Republik frei. Die „Regierung der nationalen Verteidigung‟ verhandelt hinter dem Rücken der Bevölkerung mit der preußischen Regierung. In Paris wird das Kabinett bald nur noch „Regierung des nationalen Verrats‟ genannt.
Die Wahlen zur Nationalversammlung am 8. Februar 1871, nach Unterzeichung des Waffenstillstands durch Favre und Bismarck, und die Bildung der Regierung Thiers am 16. Februar werden vom Volk von Paris faktisch ignoriert. Die Werktätigen in Paris haben andere Vorstellungen, wie es weitergehen soll: es geht um die Verteidigung gegen den Feind vor den Toren der Stadt, es geht um das tägliche Brot, es geht um Arbeit, es geht um die Beseitigung der Wohnungsnot, es geht um die Republik – nicht irgendeine Republik, sondern um die soziale Republik.
Als die Regierung Thiers, die sich nach Versailles, dem Symbol des verhassten Royalismus, zurückgezogen hat, am 18. März versucht, ihre Truppen die Kanonen der Nationalgarde – die vom Volk bezahlt wurden – beschlagnahmen zu lassen, scheitert dieses Unterfangen am Widerstand der Bevölkerung, und hier vor allem der Frauen. Der 18. März ist der Tag, an dem eine neue Macht geboren wird – die Commune. Das Zentralkomitee der Nationalgarde ergreift provisorisch die Macht und schreibt sofortige Wahlen für den 23. März aus, die zur Bildung des Kommunerats führen. In den 72 Tagen werden radikale Maßnahmen ergriffen, um die Lage der arbeitenden Klassen zu verbessern: die Löhne werden erhöht, Betriebe unter Arbeiterkontrolle gestellt, Sozialgesetze wie das Nachtarbeitsverbot für Bäcker beschlossen, die Stellung unehelicher Kinder jenen ehelicher angeglichen, die Volksbewaffnung durchgesetzt, Kirche und Schule getrennt, die Schulpflicht eingeführt, öffentliche Ausspeisungen organisiert,usw.
Der Hass der Regierung in Versailles gegen den Aufstand spiegelt den Hass der französischen Bourgeoisie auf die Revolution der Pariser Werktätigen wider. Die einstigen Kriegsgegner Bismarck und Thiers sind sich in einem Punkt einig: Die Commune muss vernichtet werden. Die Befehlshaber der Armee des neugegründeten Deutschen Kaisserreichs lassen auf Bitte des französischen Regierungschefs zehntausende Soldaten frei und stimmen ihrer Bewaffnung zu. Am 21. Mai 1871 dringen die Regierungstruppen in Paris ein. Am Ende der „Blutigen Woche‟, am 28. Mai, werden nach erbitterten Kämpfen und Massenmorden an echten oder vermeintlichen Communarden die letzten 147 Aufständischen an einer Mauer des Friedhofs Pére Lachaise füsiliert. Die Niederwerfung der Commune forderte zwischen 7 000 und 20 000 Tote auf Seiten des Volkes. 40 000 Frauen, Männer und Kinder wurden eingesperrt oder depoortiert, meistens nach Neu Kaledonien. Tausende Aktivist*innen der Commune flüchteten in die Schweiz, nach England oder die Vereinigten Staaten.
Bilder
Die Commune war die erste revolutionäre Erhebung, die in großem Umfang fotografisch dokumentiert wurde. Sie war auch die erste, in der im Nachhinein die Fotografie als Waffe der siegreichen Konterrevolution verwendet wurde.
Das verdanken wir zum einen dem Fotografen Bruno Braquehais (1823-1875): Der in Dieppe zur Welt gekommene Bruno Braquehais war von Geburt an taub. Zwischen dem neunten und zwölften Lebensjahr besuchte er einen Litographiekurs an der staatlichen Schule für Taube. Sein offensichtliches Talent ermöglichte ihm, nach Abschluss der Schule nach Paris zu übersiedeln und dort Arbeit zu finden. Die Verehelichung mit der Tochter des Besitzers eines Daguerrotypiestudios führten ihn zur Fotografie. Einen Namen machte er sich mit seinen „académies‟ – fotografischen Aktstudien für Maler (die sich oft keine Modelle leisten konnten). Nach dem Tod des Schwiegervaters übernahm er das Studio und führte es kommerziell sehr erfolgreich weiter.
Während der Belagerung von Paris und nach der Proklamation der Commune dokumentierte Braquehais die Ereginisse.
Man sollte sich vor Augen halten, dass er, so wie andere Fotografen seiner Zeit, mit Plattenkameras fotografierte, was nicht nur lange Belichtungszeiten (zwischen 4 und 40 Sekunden), sondern auch eine schnelle Entwicklung notwendig machte (es gibt weiter unten ein Foto der ambulanten Dunkelkammer des Fotografen André Adolphe-Eugène Disdéri, 1819-1889).
Braquehai sammelte 109 seiner Fotos über die Commune in einem Album, mittlerweile finden sich in den diversen Fotosammlungen und Mussen weltweit zumindest 140 Fotos. Das Plattenverfahren führte natürlich auch zu Fehlaufnahmen, die entweder unter- oder überbelichtet waren und nur teilweise in der Dunkelkammer gerettet werden konnten. Diese Fotografien wurden dann aber von ihren Herstellern oft nur archiviert und nicht veröffentlicht.
Auf Grund der Belichtungszeiten und des technischen Aufwandes sind die Bilder oft statisch, die Soldatinnen und Soldaten der Nationalgarde posieren vor der Kamera. Das ändert aber nichts an der Authentizität der Fotos Brquehais, der unter anderem die Zerstörung der Vendôme-Säule am 16. Mai 1871 beeindruckend dokumentierte.
Exkurs: Die Vendôme-Säule
[Die Vendôme-Säule wurde 1806-1810 aus dem geschmolzenen Erz von 133 in der Schlacht von Austerlitz erbeuteten russischen und österreichischen Kanonen errichtet und sollte die Heldentaten der Grande Armée Napoleons verherrlichen. Die auf der Spitze der Säule befindliche Statue Napoleons I. wurde bereits 1814 entfernt, unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe aber 1833 wieder aufgestellt. Republikanischen Künstlern wie Gustave Courbet (1819-1877) war die Säule als unerträgliches Denkmal der Restauration und des Militarismus ein Dorn im Auge. Courbet, in der Commune aktiv, konnte den „Säulensturz‟ durchsetzen]
Von der Ästhetik her sind etliche der Fotos Braquehais in der Tradition des akademischen Malereistils gehalten – es ist das „schöne Foto‟, das geliefert wird. Der radikale Bruch mit der Tradition sind aber die Sujets – die Männer, Frauen und Kinder des Volkes, nicht die selbstzufriedenen Bourgeois und Karriereoffiziere der Zeit vor 1871.
Weniger bekannt sind die Fotografien von wirklichen Amateuren – herausragend hier der Apotheker Hippolyte Blancard (1843-1924). Seine Glasplatten und Abzüge der Fotografien finden sich in der Historischen Bibliothek der Stadt Paris. Da er seine Fotos nicht veröffentlichte oder verkaufte, musste er sie nicht registrieren lassen. So wie Blancard hatten während der Belagerung von Paris Fotografen wenig Probleme, sich in den umkämpften Vororten und Dörfern rund um Paris zu bewegen. Weder die französischen noch die preußischen Truppen scheinen hier große Schwierigkeiten gemacht zu haben.
Die „Erfindung‟ der Postkarte und der „Visitkarte‟, also kleinformatiger Porträtfotos, machte es möglich, dass die Bilder der Commune größere Verbreitung fanden.
Nach der Niederschlagung der Commune blühte ein ganz anderes Genre auf: Fotos, und vor allem Fotomontagen, die untrennbar mit dem Namen Ernest Eugene Appert (1831-1905) verbunden sind. Appert betrieb gemeinsam mit seinem Bruder Eugéne ein Fotostudio, das sich in erster Linie dem Porträt widmete und gehobene Bürger, Offiziere und Adelige zu seinen Kunden zählte. Das wurde sicherlich dadurch begünstigt, dass die Brüder offenbar überzeugte Anhänger des Kaiserreichs waren und auch für die Justizbehörden Napoleon III. arbeiteten. Während der Commune stellten sie sich auf die Seite der Versailler und erhoelten wohl deshalb nach der BlutigenWoche den Auftrag, die „Greuel der Commune‟ und die „Verbrecher‟ abzulichten. Bis 1873 stellten die Apperts ein schauriges Werk zusammen, „Die Verbrechen der Commune‟, in das sie zum ersten Mal in großem Umfang Fotomontagen einbauten: Statisten in Nationalgarde-Uniform stellten die Erschießung der Geiseln am 23. Mai nach, in authentische Szenen wurden Köpfe von Opfern und angeblichen Tätern hineinkopiert, ohne Rücksicht auf Proportionen oder Perspektive. Der Zweck heiligte hier die Mittel – Schockbilder sollten ein für allemal die Commune als Pöbel- und Verbrecherherrschaft in die Geschichtsbücher einschreiben.
Nach hinten los ging der Schuss, „Verbrecherfotos‟ führender Communard*innen zu verbreiten. Das Foto von Louise Michel, der Kämpferin, Lehrerin und anarchistischen Feministin, das Appert im Gefängnis aufnahm, wurde bald zu einer unter der Hand verbreiteten Ikone und fand sich gut versteckt in so manchem Arbeiterquartier.
Ebenfalls ikonisch wurde das berühmte Foto der nackten Leichen hingerichteter Kommunarden in ihren Särgen. Der Hintergrund dieser Aufnahme ist unklar. Ein Stempel am linken unteren Rand verweist auf das Studie Disdèri, wodurch aber nicht bewiesen ist, dass Disdéri selbst die Aufnahme gemacht hat. Es könnte sein, dass lediglich die Abzüge dort angefertigt wurden. Disdéri war in erster Linie Geschäftsmann, und für dieses Foto gab es keinen Auftrag. Sollte es tatsächlich auf Weisung der Sieger gemacht worden sein hätte auch dieses Foto vermutlich die entgegengesetzte Wirkung gehabt, die die Intention gewesen sein könnte: Statt Abscheu vor den Communarden Mitleid mit den ihrer Würde beraubten Erschossenen zu wecken.
Die „Himmelsstürmer‟, wie Karl Marx die Communarden nannte, hatten so also auch Anteil an der Entstehung des modernen Fotojournalismus.
Kurt Lhotzky