Einmal ein Beitrag ganz ohne Foto
Sonntag Mittag, Wien, U2, eine der Stationen jenseits der Donau. Das Licht geht aus, alle Türen der Waggons öffnen sich, das Brummen der Motoren verstummt. Die meisten Fahrgäste warten geduldig auf eine Durchsage der Leitstelle, die jedoch nicht erfolgt.
Dann laufen Polizeibeamte am Bahnsteig in Richtung des ersten Wagens. Gleichzeitig ertönt die blecherne Stimme aus den Lautsprechern: “Wegen eines Polizeieinsatzes im Bereich der Station bla bla bla…”.
Da ich einen Termin einhalten möchte, verlasse ich die Station, um die nächste Straßenbahnhaltestelle zu suchen. Dann sehe ich den Grund für den Polizeieinsatz (mittlerweile sind auch mehrere Ambulanzen und Feuerwehreinsatzwägen vorgefahren): eine Frau balanciert auf der Brüstung der U-Bahn-Überführung, mehrere Meter über dem Betonboden unter ihr. Immer wieder bleibt sie stehen, spannt sich an, scheint zu überlegen, ob sie springen soll oder nicht.
Die Feuerwehrmänner beginnen zügig damit, unter der Überführung riesige selbstaufblasende Sprungmatten auszubreiten.
Ich habe wie immer meine Kamera dabei – diesmal die supergute superneue Canon EOS 760D. Was für ein Motiv. Aber ehe ich den Rucksack von der Schulter nehme, halte ich inne.
Was würde geschehen, wenn ich jetzt diese dramatische Szene fotografiere? Was würde dieses Bild aussagen? Was würde jemand, der nicht dabei war, aus diesem Bild “lernen”? Was hätte ich selbst von dieser Aufnahme? Würde ich dieses Bild irgendwann veröffentlichen? Im Netz, oder wo? Würde ich mich zum “Leserreporter” einer der Gratisblätter machen wollen?
Wer meine Videobeiträge auf diesem Blog kennt, weiß, wie ich immer schließe: “Nehmte eure Kamera mit, und denkt daran: Das schlechteste Foto ist das, das man man nicht macht”.
Ich lasse die Kamera im Rucksack. Ich mache kein Foto. Denn ein Foto dieser Szene würde all das verletzen, was ich unter “fotografischer Ethik” verstehe und all dem widersprechen, was ich mit meinen bescheidenen fotografischen Versuchen auf dem Gebiet der street photography erreichen will.
Es würde nichts tun, als die Würde dieser armen Frau zu verletzen, die dort oben steht und offenbar in ihrer Verzweiflung weder ein noch aus weiß. Denn dieses Foto würde nicht, rein gar nichts darüber aussagen, was einen Menschen zu so einer Handlung treibt. Es wäre der reine Voyeurismus, es wäre tatsächlich “das Leiden anderer betrachten”.
Ich werde vorsichtiger sein mit meinem Rat, die Kamera immer einsatzbereit zu haben. Wichtiger als zu wissen, wann man was fotografieren muss, ist vermutlich zu wissen, wann ein Foto falsch und vielleicht sogar verabscheuungswürdig ist.