Bereits zum 4. Mal findet in diesem Jahr in Baden (Niederösterreich) in Zusammenarbeit mit der Rocher-Stiftung und zahlreichen lokalen und internationalen Partnern das La Gacilly-Festival statt.

In La Gacilly (Bretagne) 2003 vom damaligen Bürgermeister Jacques Rocher initiiert, hat sich das von Haus aus ökologisch orientierte internationale Fotografieevent nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit den österreichischen Organisatoren rund um den international renommierten Fotografen und Verleger Lois Lammerhuber zum größten fotografischen Freiluftereignis Europas entwickelt. Mit Stolz können die Veranstalter vermelden:

Das Festival erstreckt sich über 7 Kilometer Länge, aufgeteilt in eine Garten-Runde und eine Stadt-Runde, ausgehend vom Besucherzentrum am Brusattiplatz. Integriert in den öffentlichen Raum sind heuer ca 1.500 Fotografien zu sehen, manche bis zu 280m² groß.

Es ist das größte Outdoor-Fotofestival Europas, das 2020 von 306.024  Besuchern gesehen wurde. 

Jeweils mit einem Jahr Verzögerung kommt die Ausstellung von La Gacilly nach Baden und wird dort mit zusätzlichen Ausstellungen angereichert. 

Schwerpunktthema der diesjährigen Schau ist Lateinamerika – “Viva Latina” ist die griffige offizielle Bezeichnung. Zweiter Schwerpunkt ist die Biodiversität. Beide Themen sind ja eng miteinander verwoben.

Lateinamerika ist ein Kontinent, der seit Beginn unseres Jahrtausends von heftigen politischen und sozialen Eruptionen erschüttert wird. Die internationalen Wirtschaftskrisen spiegeln sich dort besonders brutal; der Kampf um die natürlichen Ressourcen – von Erdöl bis zu Edelhölzern . nimmt explosive Formen an. “Demokratische Öffnungen” nach den finsteren Jahren der Diktaturen in Chile oder Argentinien entpuppen sich als gar nicht so demokratisch, in Brasilien spitzen sich die Konflikte zwischen den Verfechtern einer zweiten Auflage der vargistischen Diktatur der 60er und 70er Jahre und den sozialen Massenbewegungen weiter zu; in Bolivien hat es eine oligarchische Minderheit geschafft, den ersten indigenen Regierungschef wegzuputschen, Kolumbien kommt seit Monaten nicht zur Ruhe, und die Wirtschaftskrise in Argentinien hat schon fast Tradition.

Lateinamerika ist aber auch ein Zentrum des Kampfes um die Verteidigung der natürlichen Habitate, der Regenwälder, der Artenvielfalt. Gerade Brasilien ist ein erschreckendes und brutales Beispiel dafür, wie agro-industrielle Profitgier nicht nur schwere Schäden am Ökosystem hervorbringt; denn bei der Diskussion über die “grüne Lunge der Welt” oder den Klimawandel wird leider oft ignoriert, dass hier menschliche Lebensräume zerstört werden; dass Indigene von Paramilitärs im Auftrag der Großgrundbesitzer und der Agroindustrie vertrieben oder ermordet werden.

Und das Problem endet nicht im Luftraum über Lateinamerika. Die klimatischen Veränderungen führen weltweit zu Naturkatastrophen, auch wenn diese mitunter langsam und daher weniger spektakulär empfunden werden als beispielsweise Tsunamis. Die Verwüstung Afrikas – wörtlich genommen: der Verlust fruchtbaren Bodens und seine Verwandlung in Wüste – , die Erwärmung der Meere und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Ernährung, die Verseuchung der Gewässer sind eine wesentliche Ursache für die neuen Migrationsströme. Menschen, die durch die Profitgier einheimischer Statthalter der imperialistischen Mächte und Konzerne an die Grenzen des gerad noch erträglichen gedrängt werden geraten in Bewegung, suchen sich neue Plätze, an denen sie zu überleben hoffen und werden dann an den Außengrenzen der reichen Länder abgewiesen, Verbrecherbanden ausgeliefert, ertränkt. 

Hier kommt die Fotografie ins Spiel. Und Ausstellungen. Und Fotobücher und Fotozeitschriften. Fotografinnen und Fotografen können im Zeitalter des Internet in Bruchteilen von Sekunden Realitäten auf die Monitore von Milliarden Menschen bringen, die in diesem Ausmaß vor zwanzig, dreißig Jahren noch unvorstellbar waren . Wie aber die Bilderflut bewältigen? 

Das “Foto auf Papier” wird wieder wichtiger. Die Bilder einer Ausstellung, die Fotobücher – “Ausstellungen zum nach Hause nehmen”, die Fotozeitschriften für die aktuelle Information sind nachhaltig. Sie verschwinden nicht, wenn man mit dem Finger über sie wegwischt. Fotos wirken schon im Format 10 x 15 anders als auf dem Smartphone und 100 x 150 anders als am größten Computermonitor. 

La Gacilly (Bretagne) und La Gacilly in Baden bedeuten hier einen besonders wichtigen Schritt in der Aufwertung der Fotografie: die Bilder erobern den öffentlichen Raum. Jede und jeder kann die Fotos betrachten, solange sie oder er es will, und das, ohne Eintritt zahlen zu müssen, ohne kulturellen Dresscode, in jeder Hinsicht barrierefrei.

Lois Lammerhuber über einige spezielle Aspekte des diesjährigen Festivals

“Viva Latina” ist eine staunenswerte Zusammenstellung von Fotodokumenten, die Einblick in das pralle Leben des Halbkontinents bietet. Ja, viel Naturfotografie; Bilder, die das Elend der Menschen zeigen; aber auch viele Bilder, die Menschen beim Feiern, im Umgang mit anderen Menschen, bei der Arbeit zeigen. Und viele wirklich witzige Arbeiten, wie etwa die des argentinischen Fotografen Marcos Lopez, der mit knallig-bunten inszenierten Fotos einen ironischen Blick auf Stereotype über Lateinamerika und die konsumorientierte Oberschicht wirft. 

Spannend die Bilder der brasilianischen Fotografin Luisa Dörr, “Mulheres” (Frauen). Die 1988 geborene Fotografin begleitet einerseits in einer Fotoserie die Flying Cholitas – indigene Frauen, die in prächtig-leuchtenden traditionellen Kleidern Ringkämpfe veranstalten und damit eine Tradition fortsetzen, die ganz anders aussieht als die des “Männerringkampfs”; eine zweite Serie zeigt die “Falleras”, Frauen aus der Region Valencia, die das ganze Jahr über an traditionellen Gewändern nähen und sticken, die an die traditionelle Kleidung der Arbeiterinnen auf den Reisfeldern rund um Valencia anknüpfen und diese modischen Kunstwerke bei einem Volksfest zeigen.

Der Brasilianer Cássio Vasconcellos stürzt mit seinen riesig aufgeblasenen Arbeiter die Betrachter in arge Verwirrung. Da ist die Außenwand eines Gebäudes mit einem Foto bedeckt, das 50.000 Autos aus der Luft zeigt. Aus der Ferne glaubt man, ein pointillistisches Mosaik vor sich zu haben, aber aus der Nähe … Das Erschreckende: die abgebildeten Fahrzeuge zeigen gerade ein Prozent der Autos, die sich in der Heimatstadt des Fotografen, Sao Paolo, mehr oder minder fortbewegen.

In den Urwald Brasiliens führt uns Carolina Arantes. Dort lebt am Rio Xingu das Volk der Juruna, oder, genauer: Diejenigen, die sich dort noch festkrallen konnten. Denn dem gigantischen Wasserkraftwerk Belo Monte, das hinter einem Staudamm von mehr als 100 Meter Höhe errichtet wurde, fielen fast 50.000 Hektar Urwald zum Opfer, geschätzte 40.000 Menschen wurden zwangsumgesidelt. Es ist dieser Teil des Regenwaldes, der nach der Wahl Jair Bolsonaros von heftigen Bränden heimgesucht wurde – die kein Zufall waren, sondern Folgen der  Brandrodungen durch die dortige Agraroligarchie waren.

Pablo Corral Vega zeigt Menschen in den Anden. Stimmig “kommentiert” werden die Fotos mit ausgewählten Zitaten des Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa. Tomas Munita aus Chile wiederum begleitet die “Cowboys in Patagonien”.

Einen ausgesprochenen “Manstop”-Effekt haben die Fotos, die das Ergebnis der Zusammenarbeit von Fotografen der französischen Nachrichtenagentur Agence France Press (AFP) und des Festivals in La Gacilly sind: Pedro Pardo zeigt ungeschminkt Szenen aus Mexiko, die erschüttern. Kinder, die schwerbewaffnet in “Selbstverteidigungsmilizen” Dienst tun müssen; Menschen, die verzweifelt versuchen, illegal in die USA zu gelangen. 

Der Chilene Martin Bernetti zeigt in eindrücklichen Aufnahmen, welche verheerenden Auswirkungen der Raubbau an den natürlichen Rohstoffen hat – aber auch, wie erste Schritt eines Rückbaus unternommen werden, um die der Natur geschlagenen Wunden zu heilen. Carl de Souza aus Brasilien dokumentiert den Widerstand der Indigenen am Amazonas. Proteste, wie es in den Medien oft verniedlichend heißt? Unter Bolsonaro wohl mehr der Kampf ums Überleben ganzer Völker.

Die Fotos im Schwerpunkt Biodiversität kann man wohl ohne Übertreibung sensationell nennen.

Der französische Unterwasserfotograf Greg Lecoeur nimmt uns auf eine abenteuerliche Reise in die große Welt unter der Meeresoberfläche mit. Durch die Größe der Ausarbeitung für die Ausstellung La Gacilly in Baden wirken die Bilder noch beeindruckender.

Nadia Shira Cohen, eine US-amerikanische Fotografin, dokumentiert in einem Langzeitprojekt, wie die Naturzerstörung die Lebensgrundlage einer der letzten Maya-Regionen untergräbt.Ulla Lohmann (berühmt für ihre Vulkanfotos) zeigt, wie sich in Madagaskar Menschen der Zerstörung der Wälder und Anbauflächen widersetzen. Besonders empfehlenswert für Besucherinnen und Besucher, die wie ich die madegassischen Lemuren ins Herz geschlossen haben!

Ein Thema für sich wäre die Sonderschau des Zyklus “Gold” von Sebastiao Salgado. Darauf werde ich in einem späteren Beitrag zurückkommen.

In diesem ersten Beitrag zum diesjährigen Festival La Gacilly in Baden konnte ich natürlich nicht alle Fotografinnen und Fotografen erwähnen – das ist keineswegs wertend, sondern einzig und allein den zeitlichen Möglichkeiten geschuldet.  

Ebenfalls noch nicht beschäftige ich mich hier mit dem bemerkenswerten länderverbindenden Projekt, Schülerinnen und Schüler in Morbihan (Bretagne) und ihre niederösterreichischen Alterskolleginnen- und kollegen fotografische Arbeiten zum Thema “Diversität” zu gestalten.

Zum Glück ist das Festival bis Oktober zu besuchen. Da es, wie gesagt, ein Freiluftevent ist, kann man bei entsprechender Abstandsdisziplin auch weitgehend auf die FFP2-Maske verzichten. Und vielleicht darüber nachdenken, inwieweit die Pandemie, die uns soviel Lebenszeit gekostet hat, nicht auch mit dem Thema Biodiversität zusammenhängt.

Kurt Lhotzky

Der Gesamtkatalog zur Ausstellung lässt sich hier downloaden: https://press.lammerhuber.at/Festivalkatalog2021

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert