Die diesjährigen World Press Photo Awards (WPP) standen im Zeichen besonders heftiger Kontroversen. Nicht nur das “Siegerfoto” Burhan Ozbilicis, das den islamistischen Attentäter Mevlüt Mert Altintas in den Augenblicken nach der Ermordung des russischen Botschafters in Ankara, Andrej Karlow, zeigt, auch das langfristige Projekt des iranischen Fotografen Hossein Fatemi “Eine iranische Reise” gab Anlass zu substanzieller Kritik. Das äußerte sich unter anderem darin, dass sich eine öffentliche Debatte darüber entwickelte, ob die Preisvergabe an Fatemi mit den Regeln des World Press Photo Bewerbs kompatibel war. Mehr darüber weiter unten.
Zunächst: Wie immer ist die Ausstellung der ausgezeichneten Fotos in der Wiener Galerie Westlicht ein Gewinn für jeden Fotointeressierten, egal, ob “praktizierender” Fotograf oder Fotografin, oder “bloß” vom Fotojournalismus Begeisterten. Die Qualität der Bilder ist bestechend, die Themenvielfalt – klassischer Bildjournalismus, Sportfotografie, Reportagen, Naturdokumentationen – beeindruckend. Wer die Chance hat, diese alljährliche Leistungsschau der internationalen Top-Fotografinnen und -Fotografen zu besuchen, sollte sie unbedingt nützen.
Nun aber zu den Streitpunkten innerhalb und außerhalb der Jury. Ozbilicis Foto kann mit Recht als nahezu lehrbuchhaftes Beispiel für Fotojournalismus bezeichnet werden. Der Fotograf war zufällig am Schauplatz des Attentats in einer Galerie in Ankara. Aus durchaus professionellem Interesse ging er möglichst Nahe an den Botschafter heran, weil er sich ein paar Bilder erhoffte, die vor dem Hintergrund des russischen Engagements in Syrien vielleicht verkäuflich sein könnten. Dann fiel der Schuss, der Karlow in den Rücken traf; der Attentäter, ein Polizist in Zivil, hob die linke Hand mit ausgestrcktem, Zeigefinger nach oben, rief zweimal “Alluah Akbar”. Die ganze Zeit stand der Fotograf direkt vor dem Mörder und dokumentierte die Ereignisse. Er sah aus nächster Nähe, wie der Attentäter noch einmal um die Leiche des Botschafters herumging und aus nächster Nähe einen weiteren Schuss auf den am Boden Liegenden abgab.
Was gibt es also an diesem Bild zu kritisieren, das unter Einsatz des Lebens des Fotografen entstand und einen dramatischen geschichtlichen Augenblick festhielt? Die Diskussion geht nicht um das konkrete Bild, sie dreht sich um die Frage, ob die Massenmedien Fotos veröffentlichen sollen, die der Selbststilisierung von Mördern als Helden zuarbeiten. Wäre Altintas nicht ein adrett, mit Anzug und Krawatte, gekleideter junger Mann, glattrasiert, in einer Pose, die uns eigentümlich vertraut erscheint (tatsächlich haben viele Betrachter des Bildes an den Vorspann der alten James Bond-Filme gedacht!), sondern ein langbärtiger, ungepflegter Terrorist mit hasserfüllten Augen, wäre die Diskussion vermutlich gar nicht begonnen worden. Dann wäre durch das Bild klar kenntlich gewesen: Hier mordet eine bestialische, fast entmenschte Macht, die nichts heldenhaftes an sich hat.
Ozbilicis Foto wirft andere Fragen auf: Was treibt diesen jungen Mann dazu, einen Mord zu begehen, wohl wissend, selbst kurt darauf von Sicherheitskräften erschossen oder zumindest verletzt zu werden? Seine Pose nach der Tat ist die des Anklägers. Hier steht ein Mann vor uns, der eine Botschaft verkünden will. Genau das wirft die ethische Frage auf: Ist das nicht genau die wirkliche Absicht des Mörders – seine blutige Tat als eine Form der Rache, einer höheren Form von Justiz zu präsentieren? Ist das nicht genau die Heldendarstellung, die potenziell Anfällige zu Rekruten des Terrors machen kann – jener Augenblick der Berühmtheit, der ein Bild in die Köpfe von Millionen Menschen pflanzt, ikonisch wird?
Die Diskussion, ob gerade dieses Bild prägend für das Jahr 2016 war, wird wohl nicht so schnell enden.
Problematischer scheint mir die Debatte um Hossein Fatemis “Iranische Reise”. Im Ausstellungskatalog heißt es: “Der Fotograf, im Iran geboren und aufgewachsen, fotografiert sein Land seit 15 Jahren. Er will Aspekte der komplexen iranischen Gesellschaft dokumentieren und einige weniger bekannte Alltagsbereiche aufzeigen”.
Einige Monate, bevor Fatemis Langzeitprojekt mit dem 2. Preis der WPP-Awards ausgezeichnet wurde, hatte der Fotograf und Lehrer für Fotojournalismus an der Columbia University Graduate School of Journalism, Ramin Talaie, begonnen, die Details zu einzelnen Fotos zu recherchieren. Fatemi hatte den angesehenen “Picture of the Year International”-Bewerb gewonnen, und im Internet tauchten Vorwürfe auf, der Preisträger habe journalistische Standards verletzt, indem er Szenen gestellt, unwahre Bildtexte verwendet und Werke anderer iranischer Fotografen plagiiert habe.
Auch die WPP-Jury ǵing den Vorwürfen nach – schlamping, wie Talaie öffentlich kritisiert. Besonders zwei Fotos werden von ihm besonders hervorgehoben: eine Pool-Party in einem Teheraner Schwimmbad. Hier hatte eine der abgebildeten jungen Frauen wiederholt aus Angst um ihre Sicherheit ersucht, das Bild nicht zu veröffentlichen, also auch von der Webseite von Fatemis Agentur Panos zu löschen. Das geschah nicht, und Talaie wirft der Jury (die natürlich die Fotoserie veröffentlich) und Fatemi vor, hier legitime Schutzinteressen negiert zu haben.
Das zweite Beispiel ist ein weiblicher Akt in Rückenansicht, im Original mit der Bildunterschrift, es handle sich um “a prostitute working to pay for the cost of raising her two children”. Talaie erklärt, die Frau auf dem Bild kontaktiert zu haben. Sie sei keineswegs eine Prostituierte, sondern eine Künstlerin und über ihren derzeitigen Freund mit Fatemi bekannt. Das Foto sei im Rahmen einer einvernehmlichen Fotositzung entstanden – die Bildunterschrift stellt also eine grobe Verfälschung dar.
Die WPP-Jury kam zu einem anderen Schluss und verteidigte ihre Entscheidung zugunsten Fatemis damit, die von ihr befragten Zeugen hätten keine Verdachtsmomente gegen die journalistische Integrität des Fotografen geäußert.
Auch diese Diskussion wird weitergehen. Im Zentrum steht immerhin die Frage: Wie sehr darf der Fotojournalist Bilder oder Umstände von Fotografien verändern oder beeinflussen? Ist das überhaupt zulässig, oder wird hier der Boden des Journalismus zugunsten einer inszenierten Fotografie verlassen?
Vielleicht ist es ganz gut, über diese Themen nachzudenken, bevor man sich die WPP-Ausstellung ansieht. Die fotografische Bilanz der Exponate sollte den kritischen Blick auf das Geschäft mit der Ware “Nachricht” jedenfalls nicht trüben.