Im weiten Feld der Literatur zur Fototheorie ist wohl kaum ein Begriff so umstritten wie jener der „Streetphotography“. Darf Streetphotography inszeniert sein? Dürfen Bilder, die in dieser Genre einsortiert werden, ausschließlich auf Straßen und Plätzen aufgenommen werden? Müssen/dürfen Menschen abgebildet werden? Sind Henri Cartier-Bresson oder Brassai Streetphotographers oder nicht? Und, was zur Hölle, hat das alles mit Vivian Maier zu tun?
Mein Freund Uwe S. hat den denkwürdigen Satz geprägt: „Immer, wenn ich statt Streetphotography Straßenfotografie sage, komme ich mir wie ein Sprachfaschist vor“. Spätestens seit gestern braucht er sich darüber keine Gedanken mehr zu machen – denn im MUSA, der Expositur des Wien Museum hinter dem Wiener Rathaus, wurde mit einer stilsicheren Vernissage die Ausstellung „AUGENBLICK! Straßenfotografie in Wien“ eröffnet. Sie ragt meiner Meinung nach über das in den letzten Jahren ohnehin deutlich gestiegene Niveau der Fotoausstellungen in Wien hinaus.
Die Kurator*innen Frauke Kreutler und Anton Holzer haben aus dem reichhaltigen und bisher so gut wie unerforschten Fundus der Archive der Stadt Wien – rund 300.000 Fotos – 75.000 durchforstet und daraus 180 Bilder für die Ausstellung im MUSA ausgewählt. Bonus für Besucher*innen, die den Katalog erwerben: im Buch zur Ausstellung finden sich 60 zusätzliche Abbildungen.
Frauke Kreutler und Anton Holzer
Das heißt: Neben bekannten Namen aus der Geschichte der Fotografie in Österreich wie Edith Suschitzky (besser bekannt als Edith Tudor-Hart), Ernst Haas, Elfriede Mejchar oder Erich Lessing finden sich Fotografien unbekannter oder anonymer Fotograf*innen.
Dieser Mix macht die Ausstellung ebenso spannend wie die thematische Gliederung. Sechs große Bereiche durchwandert man im MUSA – die Fotos werden in einer Ausstellungslandschaft präsentiert, die selbst etwas Städtisches an sich hat.
Dadurch entsteht ein ungeheuer plastisches und lebendiges Bild der Stadtgeschichte Wiens. Sind „Straßenfotos“ banal, weil sie einfach Momente des Alltags festhalten? Bilder zeigen, die man selbst schon oft gesehen hat? „Nur“ den Alltag spiegeln? Fotos, und hier vor allem Straßenfotos, sind gefrorene Augenblicke unserer Geschichte. Sie halten Momente fest, die für sich allein genommen vielleicht wirklich banal und unbedeutend sind. Am Zeitstrahl der Geschichte, der auch unsere Alltagsgeschichte inkludiert, sind das aber Momente, die in der einen oder anderen Weise einen oder mehrere Menschen betroffen haben. Können wir erahnen, welches Schicksal vielleicht ein paar Meter hinter dem Fleckchen Straße auf die Passanten gelauert hat, die wir hier sehen, so, wie sie vor 120 Jahren gelebt haben? Ich werde in den nächsten Tagen in einem eigenen Beitrag darauf näher eingehen.
„Unterwegs in der Großstadt“ zeigt die Entwicklung der Mobilität in Wien vom gemütlichen Flanieren bis zur großstädtischen Hektik der Gegenwart. Bezaubernd bei den Fotografien aus den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts: die geheimnisvollen „Schatten“, die vorbeiziehende Pferdewagen aufgrund der langen Belichtungszeiten auf den Fotoplatten hinterlassen haben.
„Schauen und Staunen“ löst heute geradezu Wehmut aus. Da sieht man Menschen, die etwas beobachten (oft wissen wir als Betrachter gar nicht, worauf der Blick gerichtet ist); oder Fotos des Stadtfotografen Emil Mayer, der um 1900 mit versteckter Kamera die Menschen in den Straßen beim Schaufensterbummel beobachtete. Im Zeitalter der Datenschutzgrundversorgung und klagswütiger Rechtsanwälte, die mit dem Flammenschwert das nicht immer ganz so eindeutige „Recht am eigenen Bild“ verteidigen würde man sich auch heute eine so entspannten Umgang mit der Straßenfotografie wünschen.
Im Sektor „Geschäft und Geschäftigkeit“ finden sich faszinierende Bilddokumente zum Straßenhandel in Wien. Ein Extratipp für Krimileser*innen: Wer Gerhard Loibelsbergers „Naschmarktmorde“, die 1903 in Wien spielen, gelesen hat, sollte unbedingt die Naschmarktfotos in der MUSA-Ausstellung studieren. Überhaupt gehören Märkte bis zum heutigen Tag zu den beliebtesten Topoi der Straßenfotografie (ja, ja, mach ich doch auch!).
Der Bereich „Schriften, Bilder, Zeichen“ dokumentiert in teilweise ausgesprochen witziger Form die Veränderung des Stadtbildes durch Werbung, Geschäftsschilder und politische Plakate. Natürlich dürfen hier Beispiele aus Bodo Hells „Stadtschrift“ nicht fehlen.
Wien als „Stadt der Frauen, Stadt der Männer“ ist ein Spiegel der Geschlechterverhältnisse im Wandel der gesellschaftlichen Umbrüche. Bei manchen Szenen auf Bildern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts denkt man unwillkürlich an Arthur Schnitzlers „süße Mädel“. Die männlich dominierte Fotografie wirft voyeuristische Blicke auf Alltagsszenerien (die armen Frauen und Mädchen in der Abteilung „An den Rand gedrängt“ werden da schon nüchterner gesehen).
Überhaupt gehören für mich die Aufnahmen in dieser letzten Abteilung zu den berührendsten. Neben den brillanten Fotos Ediths Suschitzkys sind die Reportagefotos von Ernst Haas, welche das Elend der Kriegsheimkehrer und die Verzweiflung der auf eine Rückkehr der Männer hoffenden Angehörigen zeigen, gerade in unseren, neuerlich von Krisen und Kriegen geprägten Zeiten, erschütternd.
Die Vernissage selbst war in jeder Hinsicht gelungen. Die Kurator*innen Frauke Kreutler und Anton Holzer gaben einen Einblick in die jahrelange Arbeit hinter dem Projekt. Wien-Museum-Direktor Matti Bunzl bat auch Mitarbeiter*innen auf die Bühne, die sonst bei Ausstellungen im Verborgenen bleiben – Grafiker*innen, Verantwortliche für die Raumgestaltung, die Redakteurin des Katalogs … Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler eröffnete kurz und humorvoll die Ausstellung. Musikalisch untermalt wurde das Event von den „Strottern“ mit Dialektliedern und einer singenden Säge.
Im Eingangsbereich werden Instagram-Fotos ausgestellt – die moderne Form der Straßenfotografie. Das ist ein „lebendiger“ Bereich, denn bis zum 19. Juni können Bilder mit dem Hashtag #Augenblick2022 gepostet werden und nehmen dann an einer Verlosung teil. Außerdem werden ständig neue Bilder zur Ausstellung hinzugefügt.
Mit einem Eintrittspreis von 7,– EUR (Ermäßigung 5,– EUR) bewegt sich die Ausstellung deutlich im unteren Preissegment für „Kulturdienstleistungen“, was in Inflationszeiten nicht zu vernachlässigen ist. Und an jedem ersten Sonntag im Monat ist der Eintritt frei. Eine gute Gelegenheit für einen Familienausflug in die Vergangenheit.
Kurt Lhotzky