[Das ist der erste Teil einer längeren Arbeit über Giséle Freunds Beitrag zur soziologischen Interpretation der Fotografiegeschichte- und Entwicklung. Der zweite Teil folgt nächste Woche und wird sich mit ihrem Werk “Photographie und Gesellschaft” auseinandersetzen. Eine noch umfassendere Version dieses Essays wird in der zweiten Ausgabe des Onlinmagazins complexityinaframe erscheinen!]
Am Anfang war der Frust. Ich habe im vergangenen Jahr eine ganze Menge Fotobücher gelesen (ich spreche hier in erster Linie über Bücher zur Geschichte der Fotografie und zur „Fototheorie“). Aus vielen habe ich enormes Wissen und viele Anregungen bezogen (darunter aus der Gesamtausgabe der „Therie der Fotografie“ bei Schirmer-Mosel), andere haben mich tief in Fragen der Ethik geführt (wie Susie Linfields “Cruel Radiance)”, Werke wie jene von Annette Vowinckel haben Wissenslücken auf Gebieten geschlossen, auf denen ich mich relativ bewandert geglaubt hatte.
Gefrustet haben mich in erster Linie jene Texte, die mir, um es salopp zu formulieren, postmodern gekommen sind, und vor allem diejenigen, in denen mir Autorinnen und Autoren mit einer gewissen zittrigen Ergriffenheit Zitate von Roland Barthes um die Ohren geknallt haben. Denn, ehrlich gesagt, kann ich mit Barthes wenig anfangen, das werde ich aber in einem ausführlicheren Beitrag erklären (erklären, und nicht rechtfertigen, wohlgemerkt).
Umso glücklicher war ich, als ich jetzt endlich Zeit und Muße gefunden habe, Giséle Freunds „Fotografie und Gesellschaft“ zu studieren, ein Buch, das unverständlicherweise zur Zeit nicht lieferbar ist. Auch das erwähnte Standardwerk von Kemp/v. Amelungen, “Theorie der Fotografie”, zitiert nichts aus diesem 253 Seiten starken Band (in der rororo-Taschenbuchausgabe von 1993, die wiederum der Rogner & Bernhard-Ausgabe von 1976 folgt).
Im Internet stieß ich dann auf eine Rezension Heinz Buddemeiers in “Die Zeit”, die leider auf Grund der Digitalisierung falsch datiert ist, aber offensichtlich nach dem Erscheinen der R&B-Ausgabe, also 1976 oder 1977 veröffentlicht worden sein dürfte.
Buddemeier zieht gleich gehörig vom Leder:
“Der Untertitel besagt, es handele sich um eine kunstsoziologische Studie. Was Gisele Freund darunter versteht, wird in einer theoretischen Vorbemerkung erläutert. Dort heißt es, Kunst und Gesellschaft ständen in enger, wechselseitiger Beziehung. Jeder Künstler müsse, um seine Arbeitsmöglichkeiten zu sichern, dem Geschmack und den Wünschen seiner Auftraggeber Rechnung tragen. Daraus folgt dann: „Jeder Künstler konnte in seinen Werken immer nur die Gefühle und Anschauungen ausdrücken, die er als gesellschaftlicher Mensch in sich aufgenommen hat. Die Kunst bringt, in welche Formen sie sich auch kleidet, jedesmal die gegenwärtigen Vorstellungen in den zeitgemäßen Techniken zum Ausdruck.“ Nach einigen Jahrzehnten methodologischer Reflexion in der Geisteswissenschaft verschlägt einem dieser naive Standpunkt vergangener Tage schier die Sprache”.
Nach einigen polemischen Absätzen gegen Freunds Vorgehensweise, anhand der Entwicklung der Porträtfotografie den Zusammenhang zwischen der neuen (künstlerischen?) Ausdrucksform und der Dynamik der gesellschaftlichen Veränderung der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten, vor allem in Frankreich, zu zeigen, holt er dann zum endgültigen Schlag aus:
“Bedenkt man alle diese Mängel und nimmt man hinzu, daß die Ausgabe von Druckfehlern wimmelt und die Übersetzung mehr als mäßig ist (Beispiel: „Es gehörte zum guten Ton dieser Gesellschaftsschicht, mit wissenschaftlichen Experimenten zu experimentieren“‚), dann bleibt einem nur die Feststellung, daß hier mit großer Eile und wenig Sorgfalt ein überflüssiges Buch auf den Markt gebracht wurde.”
Nun ist Heinz Buddemeier nicht irgendwer – als Medien- und Kommunikationswissenschaftler hat er unter anderem an der Universität Bremen gelehrt und hat selbst Bücher über Geschichte der Photographie veröffentlicht. Andererseits hat der seit 1971 stark von Rudolf Steiner beeinflußte Herr auch Bücher über “Rückwärtsbotschaften” (siehe: Die unhörbare Suggestion. Forschungsergebnisse zur Beeinflussung des Menschen durch Rockmusik und subliminale Kassetten) in der Rockmusik verfasst.
Daher lag für mich der Verdacht nahe, dass die teilweise harsche Kritik tatsächlich eher der (zugegebenermaßen nicht immer subtilen) materialistischen Methode des Buches von Giséle Freund gilt. Vor allem ist das Buch, so wie es auf französisch (1974) und dann in Übersetzungen vorliegt, natürlich nicht eins zu eins der Neudruck ihrer 1936 verfassten Dissertation “La Photographie en France au dix-neuvième siècle” (Die Fotografie in Frankreich im 19. Jahrhundert).
Alleine ein Blick in die Kapitel über die illustrierte Massenpresse in den USA, den Fotojournalismus usw. zeigt, dass Freund bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hinauf geht. Natürlich finden sich faktische Fehler im ersten Teil des Buches, der tatsächlich auf ihre Dissertation zurückgeht: etwa der immer wieder zitierte, aber leider gefakede Text des angeblichen “Leipziger Anzeigers”, der mit krud-theologischen und deutschnationalen Worthülsen gegen die typisch französische “satanische Erfindung” polemisiert. Diese Fehler sind wohl nicht methodischer Natur, sie entsprechen aber dem damaligen Wissensstand der Fotografiegeschichte.
Aber nun kurz zur Biographie von Giséle Freund:
1908 in Berlin als Tochter des Textilhändlers und Kunstsammlers Julius Freund und dessen Frau Clara geboren, kam sie
1925 zum erstenmal aktiv mit der Fotografie in Berührung, als ihr der Vater eine Kamera schenkte; ihr Studium der Soziologie in Freiburg und Frankfurt/Main bringt sie in Kontakt mit Karl Mannheim, Norbert Elias und Theodor Adorno. In linken Studentenkreisen aktiv, kann sie im
Mai 1933 Deutschland, Richtung Frankreich, verlassen. (Legendär ist die Anekdote, wie sie im Zug von einem Gestapo-Mann bei der Passkontrolle angeschnauzt wurde, ob sie Jüdin sei. Ihr Vater Julius, jüdischer Weltkriegsteilnehmer und eingefleischter Preuße, hatte ihr den entsprechend schnoddrigen Tonfall beigebracht, in dem sie zurückblaffte: “Haben Sie jemals eine Jüdin gesehen, die Gisela heißt?”) . In Paris fand sie rasch Anschluss an linke Emigrantenzirkel, lernte bedeutende Künstler kennen, dokumentierte den 1. Schriftstellerkongress für kulturelle Freiheit in Paris (Juni 1935) – dort entstand das wohl berühmteste Porträtfoto von André Malraux – und promovierte 1936.
1940 konnte sie vor den Nazis nach Südamerika flüchten.
1946 kehrte sie, durch Heirat seit 1938 französische Staatsbürgerin, nach Paris zurück, und wurde
1947 Mitglied der legendären Fotoagentur Magnum. Berühmt wurde sie durch Porträts von Simone de Beauvoir, Evita Peron, James Joyce, Frida Kahlo, Francois Mitterrand…
Am 31. März 2000 verstarb sie in Paris.