Die „Lange Nacht der Fotografie“ in Baden – was Fotografie kann

Anlässlich des 185. Geburtstags der Fotografie als “öffentliches Gut” (siehe dazu den letzten Beitrag auf diesem Blog) fand im Rahmen des Festival La Gacilly Baden Photo am 23. August 2024 die “Lange Nacht der Fotografie” statt. Sie war der schlagende Beweis, dass die Fotografie trotz scheinbar gegenläufiger Tendenzen – mehr Video auf social media, elektronisch generierte Bilder, Infragestellung der Authentizität von Abbildungen etc. – nicht nur sehr lebendig ist, sondern auch etwas bewegen kann.

Disclaimer: “die” Fotografie ist natürlich ein Abstraktum. Auch wenn z. B. das Selfie vom Sushiteller für den oder die Fotografin in dem Augenblick, wo der fiktive Auslöser am Handy betätigt wird, gerade einen emotionalen Wert hat, ist der gesellschaftliche Wert eher geringer. Klar ausgesprochen: auch wenn ich ein anderes Konzept von Fotografie habe als andere Menschen, kann ich deren Zugang nicht naserümpfend als minderwertig abtun. 

Aber zurück nach La Gacilly Baden Photo. Wie bereits in einem ersten Bericht angeführt, ist es dem Team um Lois Lammerhuber auch in diesem Jahr geglückt, weltbekannte Fotograf*innen und Fotografen nach Baden zu bekommen – nicht nur ihre Werke, die im öffentlichen Raum frei zugänglich ausgestellt sind, sondern leibhaftig, zum Reden, Diskutieren, Befragen, Fotografieren. 

Bei der Begrüßung unterstrich Lois Lammerhuber, dass er das Festival klar in der Tradition der humanistischen Fotografie sieht. Das ist auch der rote Faden, der sich schon zum siebenten Mal durch die Ausstellungen der La Gacilly Baden Photo zieht: es geht um die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur, und viele Fotograf*innen zeigen auch deutlich, dass der Mensch selbst Teil der Natur ist, auch wenn er sich ihr gegenüber oft genug achtlos oder gar feindlich benimmt.

von Links nach rechts: Florence Drouhet, Silvia Lammerhuber, Lois Lammerhuber

Dort gaben das Fotografenpaar Jennifer Hayes und David Doubilet einen faszinierenden Einblick in die Unterwasserwelt, mit der sie sich seit Jahrzehnten beschäftigen. Beide haben für “National Geographic” bedeutende Langzeitprojekte verfolgt, in den letzten Jahren kamen zu den Fotos Videos dazu. Doubilet begann seine Taucherkarriere mit 12, die Meereswissenschaftlerin Hayes wurde wesentlich durch ihre Faszination für Störe “untergetaucht”. Ihre Fotos von Korallenriffen sind von einer unerhörten Farbenpracht – und werden mit späteren, deprimierenden Aufnahmen kontrastiert, die zeigen, wie diese für das ökologische Gleichgewicht so wichtigen Meereshabitate zugrunde gerichtet werden. 

Jennifer Hayes unheimliche Begegnung mit einem Krokodil. Foto: David Doubilet 🙂

Aber Doubilet und Hayes fotografieren und dokumentieren nicht nur. Sie verstehen ihre Arbeit als Auftrag, Dinge zu bewegen, die Reparatur der zerstörten Natur zu beginnen. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Eier von Haien aus Tiergärten ausgewildert werden und dadurch die vom Aussterben bedrohten Haipopulationen hoffentlich gerettet werden. Berührend die Dokumentation über die Robben am kanadischen Mackenzie-River, die zum Gebären ihrer Jungen solide Eisplatten brauchen. Durch die Klimaveränderungen und die steigenden Wassertemperaturen wird der Lebensraum dieser Spezies immer kleiner. Das Publikum im Saal reagierte mit Betroffenheit und stürmischem Applaus.

Übrigens wurde das Fotografenpaar im zweiten Teil des Abends mit dem Hans Hass Award, der zum Gedenken an den legendären österreichischen Unterwasserforscher, Taucher und Fotografen gestiftet wurde, ausgezeichnet. Die Laudatio hielten Michael Jung vom Hans Hass-Archiv, Dr. Raunig-Hass, die Tochter von Lotte und Hans Hass, sowie der Geschäftsführer von SEACAM, Harald Hordosch. Funfact: SEACAM ist ein weltweit führendes Unternehmen auf dem Gebiet der Gehäuse für Unterwasserkameras.

Verleihung des Hans Hass-Awards

Nach einer kurzen Pause berichteten Anita und Richard Ladkani über ein Filmprojekt im Amazonasgebiet, das sie seit vier Jahren intensiv betreiben. Im Gespräch mit dem südafrikanischen Fotografen Brent Stirton wurde unter anderem ausführlich über die katastrophalen Folgen der wilden Goldschürferei in Amazonia und Pantanal informiert. Mehr über die Arbeit der beiden Filmemacher*innen finden sich im Ausstellungsbericht.

Brent Stirton (links) im Gespräch mit Richard und Anita Ladkani

Danach ging es dann zu den Preisverleihungen – den Hans Hass-Preis habe ich bereits erwähnt, neu war der “Lammerhuber Award for Life Time Achievement”. 

Andréa Holzherr bei der Laudatio auf Martin Parr

Martin Parr hier vorzustellen ist wohl müßig, in einigen früheren Beiträgen habe ich mich mit seinem Werk auseinandergesetzt. Laudatorin Andréa Holzherr (Magnum) präsentierte ihren Magnum-Kollegen in einer intelligent-witzigen Slideshow, die das Publikum zu Recht begeisterte. Martin Parr ließ bei der Übernahme des Preises – einer verkleinerten Version der Statue des Fotografen vor der Badener Römertherme – seinen britischen Humor aufblitzen. Unter großem Applaus bat er anschließend seine Gattin, mit der er seit 49 Jahren zusammen ist, auf die Bühne. 

Mit Mikrofon: Martin Parr, rechts seine Gattin

Ebenfalls überreicht wurde der Thomas Jorda-Award 2004, der zum Gedenken an den bedeutenden niederösterreichischen Kulturjournalisten gestiftet wurde und der ausschließlich an Autorinnen verliehen wurde. Die Preisträgerin ist in diesem Jahr die in Baden lebende Elisabeth Steinkellner.

Den Abschluss des Abends bildete ein ernstes und leider immer noch in der Öffentlichkeit zu wenig beachtetes Thema: ME/CFS. Gerade bei diesem Punkt wurde deutlich, was Fotografie kann bzw. was man mit ihr (hoffentlich) erreichen kann.

v.l.n.r.; Lois Lammerhuber, Brent Stirton, Gerhard Ströck, Rudi Anschober

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine komplexe, schwerwiegende und oft behindernde Erkrankung, die durch extreme Erschöpfung und eine Vielzahl anderer Symptome gekennzeichnet ist. Diese Erschöpfung ist nicht durch Ruhe oder Schlaf behandelbar und wird durch physische oder mentale Aktivität verschlimmert. Es handelt sich um eine Krankheit, die das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen kann, und dennoch bleibt ihre Ursache weitgehend unbekannt. Neben Schmerzen, Muskelschwäche, Ohnmacht treten oft kognitive Störungen auf, die oft als „Brain Fog“ beschrieben werden und Konzentrationsprobleme, Gedächtnisstörungen und Schwierigkeiten bei der Informationsverarbeitung umfassen.

In Österreich sind rund 80.000 Personen von dieser Krankheit direkt betroffen. Indirekt ist die Opferzahl größer, denn: die kranken Menschen brauchen Pflege. Für ihre Angehörigen – Kinder, Eltern, Geschwister, Partner – bleibt im Alltag kein Stein mehr auf dem anderen. Aktive Menschen werden zu langjährigen Pflegefällen; sie sind anders, als sie vor der Krankheit waren. Sie sind schlimmstenfalls unansprechbar. 

Das öffentliche Gesundheitswesen ignoriert das Problem weitgehend. ME/CFS bedürfte der Forschung, der intensiven Beschäftigung mit der Krankheit, spezieller Ausbildung des ärztlichen und Pflegepersonals, supervisorische Betreuung der Angehörigen. All das kostet Geld. 

So, wie sich das angeblich wirtschaftlich gut dastehende Österreich bestimmte Ausgaben im Sozialbereich nicht leisten kann (oder besser: will), Asylsuchende mit Bezahlkarten erniedrigt, nach wie vor bei Lehrkräften und Pflege spart, spart es auch bei der ME/CFS-Behandlung.

Nun wurde unter Mitarbeit von Lois Lammerhuber von einer Sponsorenfamilie des La Gacilly Baden Photo Festivals, der Familie Ströck, eine Initiative gestartet, um die Öffentlichkeit und vor allem die Institutionen in diesem Land aufzurütteln.

Unter der Schirmherrschaft der “WE&ME”-Foundation dokumentiert Brent Stirton gemeinsam mit dem ehemaligen Gesundheitsminister Rudi Anschober 10 ME/CFS Fälle. Der südafrikanische Fotograf hat für seine Reportagen wie z.B. über die Wilderei  auf Nashörner in Afrika nicht nur internationale Preise erhalten, seine Dokumentationen haben Wirkung gezeigt, weil sie verschwiegene Schandtaten ans Licht gezerrt und staatlichen Stellen zu Reaktionen gezwungen haben.

Daher besteht die berechtigte Hoffnung, dass das ME/CFS-Projekt, das nächstes Jahr vorgestellt werden soll, auch entsprechende Reaktionen auslösen kann.

Womit sich der Bogen schließt. Wenn Jennifer Hayes sehr bescheiden ihre Arbeit und die ihres Mannes als “story telling” beschreibt, ist das wahr – aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Dieses Erzählen einer Geschichte hat einen nicht messbaren Wert. Oft sind Betrachter*innen über die für sich selbst sprechenden Bilder leichter aufzurütteln als durch theoretische Abhandlungen. Der Text zu den Bildern kann und muss aber auch den entsprechenden Kontext vermitteln. Gerade in einer Zeit, die stark auf visuelle Reize anspricht und in der die Verpackung mehr zählt als der Inhalt, ist diese Bild-Text-Symbiose meiner Meinung nach essenziell.

Die lange Nacht der Fotografie in Baden hat exemplarisch gezeigt, wie’s gemacht wird.

Kurt Lhotzky

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