David Turnley: Liebevoller Chronist der Gegenwart

Wer noch bis 13. Oktober 2024 nach Baden kommt, um das diesjährige Festival La Gacilly-Baden Foto zu besuchen, sollte unbedingt am Brusattiplatz eine Pause einlegen, um die Fotos von David Turnley zu betrachten. „In den Tiefen der Seele“ zeigt, dass Fotografie mehr ist als nur das Einfangen von Momenten – sie ist eine Kunstform, die in der Lage ist, Zeit anzuhalten, Emotionen festzuhalten und Geschichten zu erzählen. David Turnley, ein amerikanischer Fotograf, der mit seiner Kamera die Welt bereiste und einige der bedeutsamsten Ereignisse des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts dokumentierte, hat nicht nur ein Auge für den „entscheidenden Augenblick“, sondern auch das Talent, die Menschlichkeit selbst in den düstersten Zeiten sichtbar zu machen.

Die frühen Jahre der Turnley-Zwillinge

David Turnley wurde 1955 in Fort Wayne, Indiana, geboren. Er hat einen Zwillingsbruder, Peter Turnley, ebenfalls ein erfolgreicher Fotograf ist. So etwas wie ein „doppeltes Lottchen“ der Fotojournalistenwelt, könnte man sagen – nur ohne die vertauschten Identitäten (obwohl das im Mediengetümmel tatsächlich ab und zu passiert ist). Die Turnley-Zwillinge entwickelten früh ihre Leidenschaft für Fotografie und studierten beide an der University of Michigan, wo ihre Liebe zur Dokumentation menschlicher Schicksale begann. Die beiden reisten später gemeinsam nach Paris, um dort ihre Karrieren als Fotografen zu starten.

Pulitzer-Preis und die Kunst der Empathie

1989 gewann David Turnley den Pulitzer-Preis (keineswegs die einzige Auszeichnung in der Karriere des Fotografen!) für seine beeindruckenden Aufnahmen der politischen Umwälzungen in Südafrika während der Apartheid. Seine Bilder zeigten nicht nur die Gewalt und das Leid, sondern auch die Hoffnung und den Widerstand der Menschen. Turnley hat stets betont, dass seine Arbeit auf Empathie basiert – er wollte nie einfach nur Voyeur von Tragödien sein, sondern die Geschichten der Menschen hinter den Bildern erzählen. In einem Interview sagte er einmal:

„Die Kamera ist ein Werkzeug, um Nähe herzustellen. Es geht nicht nur um das Bild, sondern darum, Teil der Geschichte zu sein.“

Eine Kamera als „Werkzeug“ zu bezeichnen, klingt so pragmatisch, als spräche er von einem Hammer – aber Turnley weiß, wie man sie genauso effektiv nutzt, um den Nagel auf den Kopf zu treffen. Vermutlich die größere Auszeichnung als der Pulitzerpreis war die Ausweisung Turnleys aus Südafrika durch das wankende Apartheid-Regime.

Es gibt Bilder, die mehr als nur den Augenblick einfangen – sie dokumentieren historische Wendepunkte und verkörpern den Triumph des menschlichen Geistes. Ein solches Bild gelang David Turnley am 11. Februar 1990, als er Nelson Mandela fotografierte, der nach 27 Jahren Gefangenschaft das Victor-Verster-Gefängnis in Südafrika verließ. Turnleys Foto von Mandela, der neben seiner Frau Winnie aus dem Gefängnistor schreitet, symbolisiert nicht nur das Ende der Apartheid, sondern auch den Beginn eines neuen Kapitels in der südafrikanischen Geschichte.

Der Tag, an dem die Welt den Atem anhielt

Die Welt blickte auf Südafrika, als die Nachricht von seiner bevorstehenden Freilassung durch die Medien ging. Journalisten, Reporter und Fotografen strömten zu dem Ereignis – unter ihnen auch David Turnley, der damals als Korrespondent für „The Detroit Free Press“ und „Gamma Agency“ arbeitete.

Was dieses Foto besonders macht, ist die Mischung aus Symbolik und der enormen Präsenz Mandelas. Wir sehen einen Mann, der Jahrzehnte lang inhaftiert war, der jedoch nicht gebrochen ist. Im Gegenteil: Mandela tritt mit Würde und einer inneren Stärke auf, die die Welt in diesem Moment tief beeindruckt.

Turnley selbst sagte später in einem Interview über das Bild:

„Mandela strahlte eine Aura der Größe aus. Als er aus dem Gefängnis trat, konnte man spüren, dass er bereit war, Südafrika in eine bessere Zukunft zu führen.“

Dieses Bild ist mehr als nur ein Dokument des Augenblicks – es ist ein Fenster in Mandelas Charakter und in den Geist des Widerstands, den er verkörperte.

Das Bild zeigt aber nicht nur den politische Anführer, der das Ende der Apartheid ankündigt, sondern auch der Ehemann, der nach jahrzehntelanger Trennung wieder mit seiner Frau vereint ist. Winnie Mandela, die ihren Mann jahrelang in Abwesenheit verteidigt hatte, steht an seiner Seite und symbolisiert die unverbrüchliche Partnerschaft, die das Paar in den schwierigsten Zeiten zusammengehalten hat.

David Turnley war nicht der einzige Fotograf, der an diesem Tag vor Ort war. Auch sein Zwillingsbruder, Peter Turnley, war im Publikum und machte ebenfalls Bilder von der Szene. Die beiden Brüder, beide erfolgreiche Fotografen, haben oft dieselben Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven dokumentiert – eine Art doppelter Blick auf die Geschichte. Es ist fast, als ob der Moment von Mandelas Freilassung so bedeutsam war, dass gleich zwei Turnleys notwendig waren, um den historischen Moment einzufangen.

Ein Bild, das Geschichte schrieb

Turnleys Foto von Nelson Mandela ist heute ein ikonisches Bild, das immer wieder in Geschichtsbüchern, Ausstellungen und Medien gezeigt wird. Es ist nicht nur eine Erinnerung an Mandelas persönliche Triumphgeschichte, sondern auch an die Kraft des Widerstands und den langen, steinigen Weg zur Freiheit. Für viele Menschen, besonders in Südafrika, steht das Bild für den Sieg über ein unmenschliches Regime und den Beginn einer neuen, hoffnungsvollen Ära.

Für David Turnley war dieses Foto einer der Höhepunkte seiner Karriere. Obwohl er in vielen Kriegsgebieten fotografiert und einige der schrecklichsten menschlichen Tragödien dokumentiert hat, bleibt das Bild von Mandelas Freilassung eines der kraftvollsten Zeugnisse seines Schaffens.

Es war ein Moment der Hoffnung, und es war eine Ehre, ihn festzuhalten“,

sagte Turnley über das Ereignis.

Die Konflikte der Welt – Eine globale Linse

Vom Golfkrieg bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, von den Straßen Berlins zur Wende bis hin zu den Bürgerkriegen in Bosnien und Ruanda – Turnley hat einen Großteil der Geschichte des späten 20. Jahrhunderts miterlebt und eingefangen.

Seine Fähigkeit, sich in die Menschen zu versetzen, die er fotografiert, ist wohl einer der Gründe, warum seine Bilder so berührend sind. In einem Bild, das er während des Golfkriegs aufnahm, sieht man einen US-Soldaten, der nach einem Kampf weinend über den Tod seines Kameraden trauert. Turnleys Bild fängt nicht nur die Brutalität des Krieges ein, sondern auch die tiefen emotionalen Wunden, die er hinterlässt – eine Erinnerung daran, dass hinter jeder Uniform ein Mensch steckt.

Obwohl viele seiner bekanntesten Bilder aus Kriegsgebieten stammen, hat David Turnley auch das Leben im Frieden meisterhaft dokumentiert. Besonders bemerkenswert sind seine Arbeiten, die das Leben der einfachen Menschen festhalten – sei es in den Armenvierteln Brasiliens oder auf den Straßen seiner Heimatstadt. Er hat ein Auge dafür, die Schönheit im Alltag zu entdecken und Momente einzufangen, die uns daran erinnern, dass das Leben aus kleinen, bedeutungsvollen Details besteht.

Seine Dokumentationen über den Alltag der Menschen in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften erinnern daran, dass es im Journalismus nicht nur um das Spektakel geht, sondern auch um die Geschichten, die oft unbemerkt bleiben.

Vom Standbild zum bewegten Bild – der Dokumentarfilmer

Turnley ist nicht nur Fotograf geblieben, sondern hat seine Erzählkunst auch auf das Medium Film übertragen. Er hat mehrere Dokumentarfilme gedreht, darunter „The Dalai Lama: At Home and in Exile“, in dem er die spirituelle Reise des Dalai Lama porträtiert. In der Tradition großer Dokumentarfilmer wie Werner Herzog ist Turnley stets bestrebt, seine Objekte mit Respekt und Tiefe zu behandeln – und dies oft mit einem Hauch von Philosophie und Nachdenklichkeit.

Besonders bedeutsam finde ich den Film „Shenandoah“, den Turnley 2012 auf die Leinwand brachte. In diesem eindringlichen Werk beleuchtet Turnley die rassistischen Spannungen in einer tief verwurzelten amerikanischen Kleinstadt – Shenandoah, gelegen im Herzen des Kohlereviers in Pennsylvania. Hier trifft die „old school“ einer Arbeitergemeinschaft auf die Herausforderungen des modernen Amerika, besonders im Kontext von Einwanderung und demografischem Wandel.

Shenandoah ist eine Stadt, die durch die Kohleindustrie geprägt wurde. Generationen von Männern und Frauen verdienten ihren Lebensunterhalt in den Minen oder hatten Verwandte, die dort arbeiteten. Diese schwere Arbeit formte den Charakter und das Selbstverständnis der Einwohner. Doch mit dem Niedergang der Kohleindustrie und dem Aufkommen billigerer Arbeitskräfte, die durch Einwanderung in die Stadt strömten, brach ein Konflikt auf. Insbesondere die ältere Generation sah in den neuen Arbeitskräften aus Mexiko und anderen Ländern eine Bedrohung. Viele der Älteren, selbst Opfer des wirtschaftlichen Wandels, lehrten ihre Kinder, die neuen „Fremden“ als Ursache ihrer Probleme zu betrachten.

Der Dokumentarfilm setzt sich mit einem tragischen Ereignis auseinander, das diese Spannungen auf grausame Weise ans Licht brachte: dem gewaltsamen Tod des mexikanischen Einwanderers Luis Ramirez im Jahr 2008. Jugendliche aus Shenandoah griffen Ramirez an, nachdem er sie auf Spanisch angesprochen hatte. Alkohol und xenophobe Einstellungen entfachten die Gewalt. Turnley zeigt eindrucksvoll, wie die Gemeinschaft zunächst hinter den Jugendlichen stand – viele sahen in Ramirez lediglich den „anderen“, einen Fremden, dessen Herkunft seine Rechte schmälerte.

Doch Turnleys Film geht tiefer und zeigt auch die innere Zerrissenheit der Stadt. Einige Bürger von Shenandoah waren nach dem Prozess und dem Urteil beschämt, als klar wurde, dass die rassistischen Einstellungen und der Mangel an Empathie eine Gemeinschaft vergiftet hatten, die einst stolz auf ihre proletarische Ethik und ihren Gemeinschaftssinn gewesen war.

Shenandoah ist mehr als eine simple Nacherzählung eines grausamen Verbrechens. Es ist eine eindrucksvolle Untersuchung darüber, wie Geschichte und Identität das gesellschaftliche Klima in kleinen Gemeinden prägen. Turnley gelingt es, die Komplexität des Themas Einwanderung in einer von wirtschaftlichen Ängsten und nostalgischer Verklärung geprägten Stadt differenziert darzustellen. Der Film zeigt die tief verwurzelten Ängste und Vorurteile einer Gemeinschaft, die sich durch den gesellschaftlichen Wandel überfordert sieht.

Der Mensch hinter der Kamera – Ein wenig Ironie im Gepäck

Trotz seiner ernsthaften Themen hat David Turnley immer wieder gezeigt, dass er auch über sich selbst und seine Arbeit schmunzeln kann. Dazu gehören natürlich die anekdotischen Berichte über die Verwechslung der fotografierenden Brüder. Etwa 1988 in Palästina, als David während der Intifada in einer für ausländische Journalisten verbotenen Zone von einem israelischen Polizisten aufgehalten wurde, der recht sauer darauf hinwies, dass er den Fotoreporter schon im vergangenen Monat immer wieder aufgehalten und zurückgewiesen hatte. Worauf Turnley erwiderte: „Das muss mein Zwillingsbruder gewesen sein“. Der Polizist schüttelte den Kopf: „Ich habe schon viele Geschichten gehört, aber das ist die beste“.

Oder ein oder zwei Jahre später in Moskau, als David zufällig auf einen Bulk von Reportern stieß, die auf der Straße Michail Gorbatschow, den damaligen Präsidenten der Sowjetunion, umringten. Irgendwie erspähte der Vater der Perestroika Turnley, und seine Leibwächter bahnten David einen Weg zu Gobatschow, der ihm herzlich die Hand schüttelte. Auch hier offensichtlich eine Verwechslung mit Peter, der für „Newsweek“ den Zerfall der UdSSR coverte. David gab sich nicht zu erkennen und kam zu einer Reihe hervorragender Porträtfotos des russischen Staatsmannes.

Fazit – Die Linse der Welt

David Turnley hat es geschafft, mit seiner Kamera die Welt zu einem besseren Ort zu machen – indem er uns die Wahrheit zeigt, sei sie nun schmerzhaft oder inspirierend. Seine Bilder erzählen Geschichten von Leid, Hoffnung, Verlust und Widerstand. Ob in Kriegsgebieten oder auf den Straßen des alltäglichen Lebens – er schafft es, das, was viele übersehen würden, in den Fokus zu rücken. Vielleicht ist es diese Fähigkeit, das Wesentliche zu sehen, die Turnley zu einem der bedeutendsten Fotografen unserer Zeit macht.

Um den Bogen in mehrfacher Hinsicht zurück nach Baden zu schlagen. Turnleys besondere Beziehung zu Paris ist eine beständige Inspiration für Fotos, die mit zum Besten gehören, was street photography repräsentiert. So wie sein Bruder Peter mit dem wundervollen Buch „French Kiss: A Love Letter to Paris“ der französischen Hauptstadt ein zärtliches Denkmal gesetzt hat, sind es seine bezaubernden Fotos des Alltags in der Seine-Metropole, die, wie ich vermute, auch Betrachter*innen berühren, die (noch?) nicht in Paris verliebt sind.

in Baden: David Turnley und Tochter Dawson

Es war ein Vergnügen, beim Festival La Gacilly-Baden Foto mit Turnley sprechen zu können und seine Erzählungen über die faszinierenden Begegnungen mit Fotografen wie Henri Cartier-Bresson, Brassai, Cornel Capa und anderen zu hören. Nach wie vor hat Turnley seine Leica dabei, wenn er in Paris unterwegs ist, und so entsteht eine vielfältige Chronik jener Stadt, die einmal zu recht als „capitale du monde“, Hauptstadt der Welt, bezeichnet wurde.

Also, liebe Leserinnen und Leser, wenn ihr nach Paris kommt und irgendwann ein leises Klicken hört – schaut euch um, vielleicht hat euch David Turnley gerade fotografisch verewigt.

Kurt Lhotzky

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